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Dämmerung

SCHICKSALSPFADE

 

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Wahre Kraft wird nicht durch Macht oder Angst geboren, sondern
kommt aus dem tiefsten Inneren von uns – aus unserem Herzen.

 

Was ist nur aus dir geworden,
Cizan?
Du hast gekämpft und gelitten,
hast dich hingegeben, um
einen Ausweg zu finden, Leid und Tod
zu fliehen.

Doch du hast dich verloren, zwischen
Krieg und Macht,
Verrat und Vertrauen,
Liebe und Hass.
Was nun?

 

Was

 

nun?

 

 

Horizont

Teil 1

„Cizan, wach auf! Du musst aufwachen!“ Cizan kam nur langsam zu sich. Als er die Augen aufschlug, blickte er in das Gesicht seiner Mutter.

„Mama, was ist los? Es ist mitten in der Nacht“, murmelte er schlaftrunken.

„Sie kommen, die Soldaten, sie kommen hierher! Schnell, du musst dich verstecken!“ Die Stimme seiner Mutter war heiser vor Angst. Sie zerrte ihren Sohn von dem einfachen Lager hoch und durch das Haus. Wo sollte sie ihn verbergen? Sie wusste es selbst nicht. Und doch musste sie eine Möglichkeit finden. Sie durfte ihn nicht verlieren, um keinen Preis. Cizan spürte die Furcht seiner Mutter. Sie steckte ihn an und machte ihn hellwach. Er wusste nicht genau, was passieren würde, doch er war auch nicht erpicht darauf, es herauszufinden.

„Der Keller“, murmelte sie. Die Frau, die ihn in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens umsorgt hatte, würde ihn nicht so einfach hergeben. Sie drängte ihn zu der engen Treppe, die unter die Hütte führte. Dort lagerten die wenigen Vorräte, die die Familie besaß und Cizan würde sich hinzugesellen. Für ein besseres Versteck blieb keine Zeit mehr.

Doch noch bevor sie die Stufen hinunterhasten konnten, wurde die Haustür aufgestoßen. Pferdewiehern und die Rufe von Männern drangen von draußen herein. Doch nicht nur sie – ein Soldat stand in der offenen Pforte. „Nein!“ Es war seine Mutter, die sich schützend vor Cizan stellte und den Krieger flehend ansah. Doch der Mann stieß sie grob zur Seite. Cizan wich zurück, doch der andere war schneller und stärker. Im Nu hatte er ihn gepackt und drehte ihm die Arme auf den Rücken. Cizan keuchte und versuchte sich aus dem Griff des Söldners zu befreien. Er mobilisierte all seine Kräfte und riss sich los, stolperte in den nächsten Raum und zur Hintertür. Doch hier lief er nur einem weiteren Soldaten in die Hände.

Sie zerrten ihn hinaus auf den Hof. Seine Mutter kam herausgerannt und warf sich vor dem Hauptmann nieder, der das Geschehen vom Rücken seines Hengstes aus beobachtete. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.
„Nicht, bitte! Nehmt mir nicht meinen Sohn!“, schluchzte sie. Doch der Blick des Soldaten war kalt wie Eis.
„Ihr kennt das Gesetz“, antwortete er, „Ihr könnt froh sein, dass die Armee euch vor den Schergen des dunklen Geistes beschützt.“ Dann wandte er sich an einen seiner Männer: „Estéy, sucht das ganze Gelände ab. Ich will, dass mir keiner durch die Lappen geht.“
Cizan zitterte. Sie waren so plötzlich gekommen. Aber mit einem Mal schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, der ihn mehr ängstigte, als sein eigenes bevorstehendes Schicksal.
Josa! Wo war er? Sein Vater war zu alt, um im Krieg zu dienen, aber sein Bruder … Nein, sie durften ihn nicht bekommen. Er war zu jung, viel zu jung. Doch was scherte es diesen Reiter, der seine bittende Mutter abwies? Je mehr neue Krieger er seinen Vorgesetzten brachte, desto besser.
Nicht Josa! Bitte nicht Josa! Nehmt mich, aber lasst ihn hier!, flehte Cizan im Stillen.
Seine Familie würde es schwer haben ohne ihn. Sie hatten nie viel gehabt, aber weder sein alter Vater noch sein kleiner Bruder würden das Feld so erträglich bestellen können wie er. Sie hatten einfach nicht seine Kraft und Ausdauer. Der eine besaß sie noch nicht und der andere nicht mehr. Seine Mutter sah zum ihm herüber. Tränen ließen ihren Blick verschwimmen. Cizan wollte sie ermutigen, ihr Trost zusprechen, doch er wusste nicht wie. Er war wie betäubt, so ohnmächtig.
„Wir haben noch welche gefunden!“ Drei Soldaten stießen seinen Vater nach draußen, gefolgt von Josa.
„Wie alt?“, wollte der Hauptmann wissen und deutete auf Cizans jüngeren Bruder. Der stämmige Krieger beäugte den schmächtigen Josa kritisch und weil er keine Antwort bekam, brüllte er: „Ich hab dich gefragt, wie alt der Junge ist. Hörst du schwer?“
Cizans Vater stotterte etwas und einer der Krieger stieß ihn unsanft in die Seite.
„Lauter, verstanden?“
„Er … er ist gerade erst elf …geworden“, stammelte der alte Bauer. „Bitte, er ist viel zu jung. Er ist doch noch ein Kind!“ Einige Sekunden blieb es still. Cizan hielt die Luft an.
Ihr müsst ihn zurücklassen. Lasst ihn hier! Bitte!
Der Hauptmann zügelte sein Pferd und ritt langsam auf seinen Bruder zu. Er musterte den Jungen eindringlich. „Wir brauchen jeden Mann“, erklärte er. Cizans Mutter wurde kreidebleich und stieß einen Schrei aus.
„Meine Kinder! Meine Söhne! Das könnt ihr nicht tun!“
„Halt dein Maul Weib, sonst lass ich es dir stopfen. Fesselt den hier“, befahl der Hauptmann und zeigte auf Cizan. „Das Kind hier könnt ihr lassen. Dieses Milchgesicht überlebt nicht mal den ersten Tag bei der Armee.“ Seine Männer packten Cizan und banden ihm die Arme auf den Rücken. Er drehte sich um, hilflos und schwach. Er würde sich nicht wehren, sonst würden sie seinen Lieben weh tun. Es war schwer genug, dass seine Eltern ihren ältesten Sohn verloren, aber wenigstens hatten sie noch Josa. Cizan sagte sich das immer wieder. Er sprach es in Gedanken, als er in das schmerzverzerrte Gesicht seiner Mutter blickte und sich zu Josa umsah, der sich im Arm seines Vaters versteckte und als er dasHaus, in dem er all die Jahre seines Lebens verbracht hatte, zum letzten Mal sah:
Ihr verliert mich, aber Josa nicht. Er wird euch bleiben.
„Vorwärts.“
Und mit dem Befehl des Hauptmanns setzte sich die Karawane in Bewegung, um einen Mann reicher, der in den Krieg ziehen würde. Cizan fühlte sich leer, so als hätte er eben tatsächlich sein Leben und seine Seele zurückgelassen. Als würden die Soldaten nur seinen Körper verschleppen und sein Geist bliebe daheim.

 

Horizont

Teil 2

Die Sonne hatte sich schon vor einer Weile über den Horizont erhoben und strahlte nun mit blendender Helligkeit auf die weiten Ebenen herunter, die der Trupp durchquerte. Sie waren an anderen Höfen vorbeigekommen und dasselbe Schauspiel hatte sich wiederholt. Mit Cizan würden noch zwölf weitere Männer in den Kampf ziehen. Diese Anzahl schien verschwindend gering, doch dies war nicht die einzige Karawane, die das Land durchstreifte und den Festungen neue Krieger brachte.
Es waren junge Männer wie er, oder Familienväter. Wettergegerbte Bauern, die nun Frauen und Kinder oder Mütter und Väter verließen. Cizan sah dem Horizont entgegen und fragte sich, was ihn dort erwarten würde. Er war nie sonderlich weit herumgekommen und die seltenen kleinen "Reisen", die er mit seinem Vater unternommen hatte, hatten ihn stets nur in die umliegenden Orte und zu den nächsten Gehöften geführt. Der Wind fuhr durch sein dunkelblondes Haar und wehte ihm die schulterlangen Strähnen ins Gesicht.
Wie lange werde ich den Wind noch auf der Haut spüren?, fragte er sich mit einem Mal und in seinem Hals bildete sich ein dicker Kloß. Er war stark, das waren sie alle. Die harte Feldarbeit hatte ihn und die anderen Bauern ausdauernd gemacht. Doch das allein würde sie nicht retten.
Wir müssen gegen Magier kämpfen, die die abscheulichsten Zauber kennen. Mit jedem Schritt mehr, den er in Richtung der dünnen Linie kam, die den Himmel von der Erde trennte, schien es ihm als würde er der Grenze seines eigenen Lebens näher entgegentreten und damit seinem Tod. Seit zwei Jahren kämpften die Truppen Greans nun schon gegen die Krieger des finsteren Geistes. Und jede Schlacht schwächte die Verteidiger und ließ die Angreifer immer weiter vordringen. Sie waren gekommen wie ein Gewittersturm und hatten dieselben Spuren hinterlassen: Verwüstung.

Die Sonne hatte ihren Tageskreis fast vollendet und der Hauptmann ließ den Trupp anhalten und ein einfaches Lager aufschlagen. Der Soldat, der Cizan aus dem Haus geholt hatte, band zwei der neuen Rekruten los und wies sie an, Steine zu sammeln. Er selbst holte Brot aus den Satteltaschen seines Packpferdes und bedeutete den anderen Gefangenen, sich zu setzen und auszuruhen.
„Die Bestrafung für Fluchtversuche heißt Peitschenhiebe“, verkündete der Hauptmann und blickte scharf in die Runde. Cizan sah resigniert zu Boden. Er hätte ohnehin keine Kraft mehr gehabt. Sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen, doch im Gegensatz zu den Kriegern, die die ganze Zeit über geritten waren, hatten er und seine Kameraden laufen müssen.
„Ich bin gespannt, wie die ein Feuer machen wollen“, flüsterte ein Mann neben ihm. Er nickte mit dem Kopf zu den zwei Bauern, die ihre gesammelten Steine zu einem Kreis legten und grinste. „Die Nacht wird ziemlich kalt werden, aber wir haben keinerlei Holz.“ Cizan musterte seinen Mitgefangenen. Der Mann war stämmig, muskulös und besaß einen ordentlichen Bartwuchs, doch in seinen dunklen Augen spiegelte sich die Verschmitztheit eines Kindes. Er konnte sogar über die Vorstellung lachen, dass sie alle frieren würden. Cizan fragte sich, wie lange ihm dieses Lächeln noch erhalten bleiben würde. „Wie heißt du?“, wollte der andere nun wissen. „Mein Name ist Cizan“, setzte der junge Mann an, wurde aber von der Stimme des Hauptmannsunterbrochen.
„Norin, mach Feuer.“ Einer der Soldaten ging auf den mickrigen Steinkreis zu. Ein anderer verteilte auf einen Wink seines Vorgesetzten hin Brot an die Gefesselten. Cizan schlang es so hastig hinunter als wäre es Honigkuchen. Plötzlich hielt er inne und sah zu seinem Nebenmann auf. „Warum isst du nicht?“
„Schau“, war dessen einfache Antwort. Der junge Mann folgte seinem Blick und sah den Soldat namens Norin vor dem bereiteten Feuerplatz stehen. Der Krieger hatte die Handfläche Richtung Boden gerichtet und wirkte hochkonzentriert.
Was macht er da?
Einen Augenblick später schossen Flammen aus der Hand des Soldaten. Mit einer schwungvollen Bewegung formte er einen Feuerball aus den ziellos peitschenden Flammen, der funkenstiebend knapp über dem Boden schwebte. Cizan konnte den Blick nicht abwenden und vergaß völlig das Essen in seinen Händen. Er starrte zu der Flammenkugel, die der Krieger einfach aus dem Nichts beschworen hatte. „Was ist das?“, wisperte er.
„Ja, das ist Magie“, erklärte der Hauptmann und nickte seinem Untergebenem anerkennend zu.
„Nicht nur der Dunkle hat mächtige Verbündete. Er strebt danach, alles zu kontrollieren und bezahlt jeden, der ihm dient, mit Macht. Doch wir kämpfen für das Rechtschaffene – für unsere Familien und Freunde. Denkt daran, wofür ihr kämpft. Der eine oder andere wird nicht zurückkehren. Aber wenn ihr versagt, wird sich kein anderer mehr vor eure Lieben stellen, um sie zu schützen.“
„Eine gute Vorführung.“ Der Mann neben Cizan nickte anerkennend. „Ich wünschte, ich könnte sowas auch. Einige Dinge wären um einiges leichter.“ Er kicherte und legte den Kopf in den Nacken. Mit einem Blick zum Nachthimmel raunte er: „Diese Welt ist so wundersam. Sie ist schon faszinierend mit ihrem Zauber. So viel zuentdecken.“ Er drehte sich zu Cizan um.
„Ich bin Adra“, stellte er sich vor. Sein Lächeln verschwand, als er erneut sprach. „Wen hast du zurückgelassen?“ Die Frage überraschte Cizan.
„Meine Eltern. Und meinen kleinen Bruder“, erwiderte er. Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, begriff er, was er soeben gesagt hatte. Er würde sie wahrscheinlich nie wieder sehen. Und obwohl er sich dieser Tatsache schon bewusst gewesen war als er den Hof am selben Morgen verlassen hatte, rammte ihm dieser Gedanke den Schmerz wie ein Messer in die Brust.
„Hm“, murmelte Adra nur und sah gedankenverloren hoch zu den Sternen. Cizan schaute ihn an und bemerkte, dass sich eine kleine Träne in das Auge des Bärtigen schlich.
„Und du?“, fragte er. Adra blinzelte den Wassertropfen fort und antwortete tonlos:
„Meine Frau.“

Mit dem neuen Tag kam der Regen. Die Wolken schienen aus dem Nichts über den Himmel hergefallen zu sein und ergossen ihren Inhalt über die Erde. Cizans Kleider waren durchnässt und starrten vor Dreck. In dem Matsch, in den sich der Boden verwandelt hatte, kamen Gefangene wie Reiter schlecht voran und die Stimmung war gedrückt. Nur das Platschen der Füße und Hufe im Schlamm und das sachte Geräusch des fallenden Regens drang durch die Stille, und manchmal ein Befehl. Cizan verlor jegliches Zeitgefühl und stapfte durch die Landschaft, den Kopf gesenkt und in Gedanken versunken. Er dachte an den letzten Abend. Nie zuvor hatte er solch ein Wunder gesehen. Natürlich hatte er gewusst, dass es Magie gab. Doch nur jemand mit großem Talent konnte diese Kunst von den Mahni erlernen. Und auch diese Menschen brauchten lange, um ihr Können zu perfektionieren. Mahni. Das Wort rief eine Erinnerung in ihm wach. Cizans Gedanken schweiften ab in die Vergangenheit.
Cizan, wovor hast du Angst?“
Ich hab Angst, dass Papa was passiert. Ich hab Angst, dass er nicht zurückkommt.“
Mein Junge, mein lieber kleiner Cizan. Papa wird sicher zu uns zurückkommen. Und weißt du auch, wieso?“
Wieso denn, Mama?“
Weil Ho-Oh ihn beschützt. Es wacht über uns alle und bedeckt uns mit seinen strahlenden Schwingen. Auch dich. Und Papa auch.“
Was ist ein Ho-Oh, Mama?“
Ho-Oh ist der große Wächter, der Wächter des Himmels. Er ist das mächtigste Mahni und hütet dieses Land.“
Wie ein Drache?“
Eher wie ein Vogel, nur viel viel größer. Und jetzt musst du aber wirklich schlafen.“
Viel viel größer …“ Der kleine Junge in Cizans Erinnerungen flüsterte und unterdrückte ein Gähnen, bevor er sich von seiner Mutter einen Gutenachtkuss auf die Stirn drücken ließ.
Der junge Mann tauchte wieder in die Gegenwart ein und schluckte. Wenn es nur wahr wäre, dass dieses Wesen tatsächlich so eine Macht hätte. Aber zu diesen resignierenden Überlegungen kam auch der Gedanke, dass es eine winzige Chance gab, dieses Mahni zu sehen. Es war wohl eher ein Wunschtraum, eine utopische Vorstellung. Und doch: Wenn er für einen Moment seine Angst ausblendete, dachte er an all die Dinge, die er entdecken würde. Und plötzlich flüsterte etwas in ihm:
Vielleicht kannst du das auch. Vielleicht steckt in dir mehr und auch du wirst bald von einem Mahni unterrichtet werden. Vielleicht schaffst du es und deswegen überlebst du.
Doch er wischte diese Hoffnung beiseite. Sollte sich das bewahrheiten, war immer noch nicht gesagt, dass er lebendig aus diesem Krieg herauskam.

Noch anderthalb Tage waren sie unterwegs. Die Zeit hatte sich ausgedehnt wie zäher Schleim und trotz der Tatsache, dass es nun endgültig kein Zurück mehr gab, war der Anblick der Festung auch erlösend. Sie schälte sich dunkel und schattenhaft aus dem grauen Regenschleier und Cizan wusste, dass der Gedanke an Ruhe nur eine Illusion war. Aber dort würde es trocken und warm sein und auch wenn es ihn zugleich fürchtete: Er war gespannt, was ihn hinter diesen Mauern erwarten würde. Die steinerne Trutzburg zählte drei Türme, die durch bogenförmige Mauern zu einem Kreis verbunden waren und in den Innenhof gelangte man nur durch einen Tunnel. Dieser war laut den Worten des Hauptmanns durch Zusammenarbeit mit den Mahni entstanden und hatte nicht nur eine beachtliche Größe, sondern auch ein beeindruckendes Erscheinungsbild. Er bestand aus solidem Fels, doch die Wände schimmerten, wie mit Metall überzogen. Er musste mit Magie geschaffen worden sein.
„Aber was, wenn die Krieger des dunklen Geistes den Eingang stürmen?“, murmelte Cizan vorsich hin.
„Das sollen sie ruhig versuchen“, antwortete der Soldate vor ihm. Er drehte sich zu dem Gefangenen um und sah von seinem Pferd zu ihm herunter. „Hast du die metallenen Glocken neben dem Tor gesehen?“, wollte er wissen. Cizan dachte kurz nach und dann fiel es ihm ein. Er nickte und sah in gespannter Erwartung zu dem Reiter auf. Dieser erklärte:
„Das sind Bronzong, Stahl-Mahni mit großen magischen Kräften. Bessere Wächter findest du kaum.“ Am Ende des Tunnels trafen sie erneut auf diese sonderbaren Wesen. Cizan betrachtete sie eingehender und war fasziniert von ihrem seltsamen Aussehen. Der Trupp kam zum Stehen und die Stimme des Hauptmanns schallte durch den Gang:
„Willkommen in Brekan. Für die nächste Zeit wird das euer neues Zuhause sein. Ab jetzt seid ihr wahrhaft die Soldaten von Grean. Ihr werdet lernen, was es heißt, zu kämpfen.“ Dann wandte er sich an die Mahni, zu seiner Rechten und zu seiner Linken. „Öffnet das Tor.“
Unter Staunen beobachtete Cizan, wie die mit seltsamen Mustern bedeckten, glockenförmigen Metallgeschöpfe in blauem Licht aufglühten und sich auf einmal die Decke vor ihnen auftat.

 

Der erste Schritt

Teil 1

Mit ohrenbetäubendem Knirschen bewegte sich das Felsmaterial beiseite. Das letzte bisschen Tageslicht, das von oben hereinschien, war nur sehr schwach und fast bemerkte Cizan den zarten Schimmer nicht, der kaum heller war als das blaue Glühen der Mahni. Auf Geheiß der Soldaten versammelten sich alle Anwesenden unter der nun sichtbaren, kreisrunden Öffnung. Cizan beobachtete die Bronzong und sah, dass diese ihre metallenen Arme nach oben schwenkten. Er taumelte, als sich auf einmal der Boden unter ihm bewegte. Langsam hob sich die Felsplatte dem Abendhimmel entgegen, den der junge Mann durch das Loch über ihm nun wieder erkennen konnte. Dann stand das Gestein schließlich still. Und Cizan sah sich mit großen Augen um.
Er war schier überwältigt von dem, was er sah. Auf dem weiten, von hohen Mauern umgebenen Innenhof drängten sich Zelte, sowie Trainingsplätze verschiedenster Art aneinander. Nahe den Mauern glühten Schmiedefeuer. Das Schlagen von Hämmern hallte durch die Luft und vermischte sich mit den Rufen der Soldaten, Pferdewiehern und dem Klirren von aufeinanderprallenden Waffen. Cizan bemerkte, dass ihm die Fesseln abgenommen wurden.
„Folgt mir, Rekruten!“
Das Lager kam ihm wie eine kleine Stadt vor und während sie sich einen Weg hindurchbahnten, drehte er sich immer wieder nach allen Seiten um, jedes Detail ungläubig aufsaugend.
Sie passierten eine Gruppe von Kriegern, die gerade von einem Ausbilder in neuen Schwertkampftechniken unterwiesen wurden. Der Bauernsohn bestaunte die Präzision und Genauigkeit, mit welcher der Lehrer die Schwünge ausführte, um sie seinen Schülern zu demonstrieren. Cizan war so gebannt, dass er beinahe gegen einen Handwerker gestolpert wäre, der an ihm vorbeikam.
„Verzeiht“, entschuldigte er sich, bekam aber nur ein unwirsches Grunzen zur Antwort. Der junge Mann beeilte sich, den anderen zu folgen. Auf einmal kitzelte über den Geruch von Rauch, Schweiß und Pferdedung ein neuer Duft seine Nase.
„Ihr habt Glück, es ist bald Essenszeit“, hörte der Gefangene jemanden weiter vorne sagen. Tatsächlich meldete sich Cizans Magen zu Wort und begann zu grummeln. Immerhin würden sie etwas zu Essen bekommen. Doch ein wenig mussten die Neuankömmlinge sich noch gedulden. Nachdem sie an einer Reihe von Schießplätzen vorbeimarschiert waren, ließ der Soldat die neuen Rekruten Halt machen.
„Alle Mann anhaaaaaaaaalten!"
Die Bauern waren die Kommandos der Armee noch nicht wirklich gewohnt und so stolperten sie eher in den jeweiligen Vordermann als wirklich stehen zu bleiben. Für die Außenstehenden musste der Anblick dieses Domino-Effekts wohl urkomisch aussehen, denn Cizan vernahm ein krächzendes Lachen, gefolgt von dem Kommentar:
„Viel Spaß mit den Jungfrauen, Norin.“ Der angesprochene Soldat hatte dafür nur eine eiserne Miene übrig. Mit erhobener Stimme wandte er sich an die Neulinge:
„Zuhören, klar? Ihr seid jetzt bei der Armee, habt ihr das verstanden?“ Dann zeigte er hinter sich und fuhr fort: „Das da ist der Nordturm. Hier wird geschlafen und gegessen.“ Einer der Männer vor Cizan seufzte auf. Essen und Schlafen hörte sich nach dem langen Fußmarsch traumhaft an.
„Ausruhen könnt ihr euch, nachdem jeder ins Register eingetragen wurde. Hier lang, Rekruten“, beendete Norin seine Erklärungen und winkte sie ins Innere des Turms.

„Name, Alter?“
„Jondur, achtunddreißig.“
„Zu den Imas. Nummer sieben. Nächster: Name, Alter?“
„Gydori, fünfundzwanzig.“
„Zu den Anith. Nummer drei. Weiter: Name, Alter?“
„Adra.“ Der Bärtige, der am Lagerfeuer neben Cizan gesessen hatte, zögerte für einen winzigen Augenblick. „Vierunddreißig“, ergänzte er dann schnell.
„Auch zu den Anith. Nummer vier. Der Nächste. Name, Alter?“
„Cizan, zwanzig.“
Der Registrierungsbeauftragte schaute von seinem Dokument auf und wischte sich eine fettige, dunkle Haarsträhne aus der Stirn.
„Ah, noch so ein Jungspund“, grunzte er. „Das Gemüse zu den Naer. Deine Nummer ist acht. Waren das jetzt alle?“
„Nicht ganz“, wehte eine ungewöhnlich hohe Stimme von den Toren herein. Jedermans Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die dunkelhaarige, junge Frau, die zügigen Schrittes das Foyer durchquerte.
„Name: Ileth. Alter: Einundzwanzig“, nahm sie dem Verwalter das Wort aus dem Mund. Auf den fragenden Blick des Mannes hinter dem Schreibtisch fügte sie hinzu: „Ich bin freiwillig hier.“
Einige Sekunden herrschte Stille. Dann brachte der Registrierungsbeauftragte ein heiseres Lachen hervor.
„Willkommen, junge Dame. Du kennst dich ja offenbar schon aus. Dann kannst du die Salzsäule hier gleich mit zu den Naer nehmen.“ Er deutete auf Cizan und wandte sich dann wieder Ileth zu: „Nummer neun. Du gehst weiter zu den Phaly. Dein Quartier befindet sich im dritten Stock.“
„Verstanden“, antwortete Ileth. Sie fasste Cizan bei der Schulter und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen. Sie ließ ihn bei einer Gruppe von Jungen stehen und verließ die Halle. Cizan hätte gern etwas auf den Kommentar des Schreibers gesagt, doch er wusste, dass Widerworte ihn nur in Schwierigkeiten bringen würden. Stattdessen sah er Ileth nach, die gerade in Richtung eines Torbogens entschwand, wo er Treppen vermutete. Er hatte hier bisher nur wenige Frauen gesehen. Und es verwunderte ihn, dass dieses Mädchen sich freiwillig zum Kampf gemeldet hatte. Besaß sie vielleicht besondere Kräfte? Oder war es ihr schlicht und einfach egal, ob sie ihr Leben auf dem Schlachtfeld ließ? Wie auch immer, ihren Enthusiasmus konnte er nicht teilen.

Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als drei Männer den Raum betraten. Man sah ihnen den höheren Rang eindeutig an: Sie trugen weiße Roben mit grünen Verzierungen und darüber hochwertige Rüstungen. Jeder von ihnen besaß außerdem einen weiten, feuerroten Umhang. Der Mittlere, ein etwa dreißigjähriger Krieger, trat vor und hob an:
„Mein Name ist Tithon Ima. Ihr habt jetzt sicherlich schlau kombiniert, dass jede Gruppe hier“, er machte eine ausladende Handbewegung, „einem Anführer zugeordnet ist. Die Imas dienen unter mir, die Aniths unter Hauptmann Kiron Anith.“ Ima zeigte nach links auf einen besonders breitschultrigen und muskulösen Soldaten. Dann wies er nach rechts und fuhr fort: „Die Jüngsten von euch gehören zu Lord Viore Naer. Ich denke, ich muss nicht betonen, dass ihr jedem von uns, sowie allen anderen übergeordneten Soldaten, unbedingte Folge zu leisten habt. Das hier sind die grundlegenden Regeln:
Ihr als die neuen Rekruten schlaft im obersten Stockwerk. Die reguläre Schlafzeit beginnt mit dem Gong und endet mit dem Gong. Es gibt drei Mahlzeiten am Tag. Diese werden alle im ersten Stockwerk eingenommen. Das Morgenmahl beginnt direkt nach der Schlafenszeit. Die Mittagspause beginnt mit dem Gong und endet mit dem Gong. Das Abendessen beginnt mit dem Gong und endet mit dem Gong. Ima Nummer zwei. Was kommt danach?“
Stille.
Der Soldat trat vor, baute sich vor der ersten Gruppe auf und fokussierte einen Mittvierziger mit dunkelbraunen Locken.
„Ima Nummer zwei. Antworte auf die Frage.“
„Ich … ich“, stammelte der Angesprochene.
Tithon Ima unterbrach ihn mit einer abrupten Handbewegung.
„Ima Nummer fünf, was kommt nach dem Abendessen?“
Ein drahtiger Schwarzhaariger fuhr zusammen, fasste sich aber schnell.
„Schlafen?“, brachte er heraus.
„Ist das eine Frage?“, bellte Ima und der Rekrut fuhr erneut zusammen.
„Nein, Herr.“
Sein neuer Vorgesetzter nickte.
„Wenigstens hast du Verstand. Nächstes Mal sprichst du mich mit Hauptmann an. Ima Nummer zwei, du wirst heute zum Beginn des Abendessens eine Runde an der Mauer entlangrennen. Du wirst vor Ende des Abendessens wieder zurück sein, wenn du noch etwas zwischen die Zähne bekommen willst. Verstanden?“
„Ja, H-Hauptmann!“, antwortete Nummer zwei.
Ima machte einen Schritt zurück und wandte sich wieder an alle Versammelten:
„Nehmt euch daran ein Beispiel. Wer schnell lernt, lebt länger.“

Als wollte er die Worte des Hauptmanns untermalen, ertönte just in diesem Moment der Gong. Sein Widerhall war noch nicht ganz verklungen, da hatten sich schon die ersten der Worte Imas angenommen und bewegten sich in Richtung des Ausganges, in dem vorher Ileth verschwunden war. Cizan warf noch einmal einen Blick auf die drei Soldaten, welche die Neulinge mit steinernen Mienen musterten.
Lord Naer.
Das würde sein neuer Herr sein. Der Adlige hatte seine langen grauen Haare zu einem strengen Zopf zurückgebunden. Neben dem stämmigen Hauptmann Anith wirkte er ein wenig schmächtig, machte den Schein aber durch seine Ausstrahlung wieder wett. Erhobenen Hauptes und aufrecht stand er da, wie ein Adler, der von einem hohen Berg auf das Land herunterblickt. Tatsächlich wurde dieser Eindruck durch seinen Umhang verstärkt, welcher wie ein Paar flammender Flügel erschien. Vielleicht war es aber auch das schon fortgeschrittene Alter, das dem Lord eine Aura von Stolz und eine gewisse Prägnanz verlieh. Dieser Mann musste jahrelange Erfahrung und Nerven aus Stahl besitzen.
Cizan riss seinen Blick von seinem neuen Herrn los, drehte sich um und lief den anderen hinterher. Während er der Menschentraube in die höheren Sphären folgte, rief er sich immer wieder ins Gedächtnis:
Naer Nummer acht. Naer Nummer acht.
Gong – Morgenmahl – Gong, Gong – Mittagspause – Gong,
Gong – Abendessen – Gong – Schlafen – Gong – Morgenmahl.
Naer Nummer acht.

 

Der erste Schritt

Teil 2

„Wie ein Kuss ist dieser Morgen,
er weckt dich mit den Strahlen der Liebe.
Die Sonne wärmt den Körper,
schenkt ihm ihre Kraft.

Sie erhebt sich leuchtend,
in ihrem Schein glänzt unsre Stadt.
Lass mein Lied hinauszieh'n in die Welt,
auf dass es Menschen stärkt und ihnen Hoffnung bringt.“


Die Melodie einer jungen Frau wehte mit dem Wind zu ihm herauf. Ein trauriges Lächeln stahl sich auf seine Lippen, während er gen Horizont sah. Hoffnung. Besaß er noch Hoffnung? Was war sein Antrieb? Die Verzweiflung? Er fühlte sich kraftlos und schwach angesichts der ernüchternden Neuigkeiten.
Kogarn ist verloren.“ Es war ein einfacher Satz. Und doch hatte er so eine vernichtende Kraft.
„Quijenya.“
„Was kann ich für dich tun?“ Die Frau erhob sich von ihrem Stoffkissen und trat zu ihm ans Fenster.
Im Licht der aufgehenden Sonne sah sie aus wie ein Wesen von einem anderen Stern. Ihre blasse Haut schimmerte leicht, wie Perlmutt, und ihre braunen Augen schienen alle Musterungen der Erde zu besitzen. Sie hatte ihr dunkles Haar zurückgebunden, das tat sie nicht oft.
„Quijenya, ich brauche die Feen.“
Die Frau sah ihn lange an. Ihr Blick war so unergründlich wie ihr ganzes Volk. Sie strich sich eine lose Haarsträhne hinter ihr spitzes Ohr und blickte auf die Stadt hinunter.
Wie Sonnenstrahlen führten die sieben Hauptstraßen von der höher gelegenen Stadtmitte weg. Sie schienen den Hügel hinabzufließen wie Flüsse und dazwischen duckten sich, die meisten eng aneinandergeschmiegt, helle Häuser an das abschüssige Gelände. Morgentau glitzerte auf den rötlich und golden scheinenden Dächern. Manche der Bauten besaßen Balkone oder kleine, von Säulen gesäumte Vorhöfe. Bogengänge und schattenspendende Dächer spannten sich über die Gassen, in denen mittlerweile schon die ersten Händler umherhuschten und emsig ihre Stände aufbauten. Von hier oben sahen sie aus wie winzige bunte Farbflecke und wirkten aus dieser Perspektive schon fast seltsam. Quijenya ließ ihren Blick weitergleiten über die Plätze mit ihren prächtigen Brunnen und den gewundenen Steinmustern im Boden. Dieser Ort war schön, doch gleichzeitig fühlte sie sich hier nicht zu Hause. Und wieviel würde von dieser Pracht übrig bleiben, wenn die Menschen hier einem anderen dienten? Was würde noch bestehen, wenn ihre Ehrerbietung nicht mehr dem galt, der einst die Erbauer der Stadt inspiriert hatte?
Eigentlich hätte all das sie nicht scheren müssen. Und trotzdem kämpfte sie für den Mann neben ihr, dessen Blick von so viel Sorge und schlaflosen Nächten sprach. Die Fee hatte ihre Vergangenheit vergessen wollen und gedacht, dass sie hier friedlich und glücklich leben könnte. Aber jeder neue Morgen schien deutlicher zu sagen, dass nichts davon wahr werden würde. Quijenya sah zu ihm auf. Sie hätte Grean so gerne gesagt, was er von ihr hören wollte. Doch nur zu versuchen seine Bitte zu erfüllen, hieß, sich in eine ganz eigene Schlacht zu stürzen. Eine Schlacht, die sie mehr fürchtete, als jeden bewaffneten Kampf gegen die Truppen des dunklen Geistes.
„Grean, ich bin mir nicht sicher.“
Sie verstummte und blickte auf ihre Hände. Der General trat vom Fenster zurück. Er atmete tief ein und stieß die Luft dann ruckartig aus. Es gab keine andere Wahl.
„Wir brauchen sie. Sonst haben wir verloren.“ Mehr gab es nicht zu sagen. Und das wusste sie ebenso wie er.

 

Unbarmherzig

Teil 1


Unbarmherzig riss der Gong Cizan aus dem Schlaf. Während der junge Mann noch müde stöhnte, sprangen die anderen neben ihm von ihren Lagern auf. Ihre hektischen Schritte dröhnten über den Holzboden und holten Cizan vollends in die Realität zurück. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und stemmte sich wie in Zeitlupe von seinem Schlafplatz hoch. Der Raum hatte sich schon größtenteils geleert, nur hier und da blinzelten noch verschlafene Gesichter in den neuen Tag. Es waren die Rekruten, die am Abend vorher mit Cizan angekommen waren. Wenn die anderen schon weg waren, hieß das wahrscheinlich, dass er sich beeilen sollte. Also raffte der junge Mann sich auf, zog sich an und trottete wenig später ebenfalls in den Gang hinaus. Der Gong bedeutete Essenszeit, das fiel ihm schnell wieder ein. Aber wo war nochmal der Speisesaal? Cizan versuchte sich die Worte des Hauptmanns ins Gedächtnis zu rufen.
Was hat Ima gesagt? Gong, Morgenmahl. Dann ein Gong zur Mittagspause. Nein – jede Mahlzeit beginnt und endet mit dem Gong. Morgenmahl, Mittagsmahl, Abendessen. Drei Mahlzeiten.
Er seufzte. So richtig wach war er noch nicht. Eine Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken auf:
„Na, schläfst du noch?“ Ein breitschultriger junger Mann marschierte an ihm vorbei und nickte ihm zu. „Komm, machen wir hinne. Sonst ist am Ende kein Essen mehr für uns übrig.“ Er lachte und ging die Treppe hinunter. Cizan ließ sich das nicht zweimal sagen und folgte ihm.
Der Speisesaal war bereits gerammelt voll. Essensdunst und Stimmengewirr schlugen Cizan entgegen, als er nach dem Breitschultrigen die Halle betrat. Auch hier hatten die Hauptleute dafür gesorgt, dass alle Soldaten in ihren jeweiligen Altersgruppen zusammensaßen. Sah man genauer hin, war erkennbar, dass die älteren Krieger die Tische im rechten Teil des Raumes belegten und sich links die jüngsten tummelten. Die Frauen und die Hauptleute waren die Einzigen, die von dieser Aufteilung ausgenommen waren. Aber das lag vermutlicherweise daran, dass sie schlichtweg viel weniger Leute zählten. Während seines Weges durch die Halle sah der junge Mann sich nach dem Tisch um, wo die anderen Jungen aus seinem Schlafraum sitzen mussten. Nach kurzem Suchen hatte er ihn erspäht und freie Plätze gab es zum Glück auch noch.
Der Mann an der Essensausgabe hatte definitiv schon mehr als fünfzig Sommer gesehen. Er kratzte sich unter dem Stoffband, das seine grauen Locken im Zaum hielt und sah zu den Soldaten auf. Mit ein paar geübten Handgriffen schnappte der Alte zwei Teller und belud sie mit Eiern, Bohnen sowie etwas, das aussah wie Getreidebrei. Das schob er über die dunkle, hölzerne Theke. Nur wenig später folgten je ein großer Krug mit Wasser nebst Messer, Gabel und Löffel.
"Habt Dank", richtete sich Cizan an den Grauhaarigen und nahm das Essen entgegen. Dieser hob kurz die Augenbrauen. Dann schlich sich für einen Moment ein Schmunzeln auf sein Gesicht. Mit einem heiseren Lachen erwiderte er:
"Ich tu dir deswegen nicht mehr drauf. Aber sag das ruhig immer wieder. Dann glaub ich vielleicht wieder an Zeichen und Wunder."
Cizan war sich nicht ganz sicher, was er darauf antworten sollte. Also nickte er nur und balancierte sein Frühstück zu den Tischen der Jüngeren, wo sich bereits eifrig darüber unterhalten wurde, was sie an diesem Tag wohl erwarten würde.

Nach dem Morgenmahl versammelte Lord Naer seine neuen Schützlinge auf dem Hof am Nordturm. Neben Cizan gehörten noch neun andere Jungen zu der Gruppe. Bis auf einen waren sie allesamt jünger als er. Einige schienen gerade mal fünfzehn Jahre alt zu sein. Der Lord sparte sich eine aufwändige Begrüßung und kam gleich zur Sache:
„Aufgepasst, Rekruten! Wir fangen heute mit einem Lauf entlang der Festungsmauer an. Ich teile euch in zwei Gruppen. Die, die als letzte ankommt, wird mit dem Mittagsgong eine weitere Runde laufen müssen. Schlagt euch gleich aus dem Kopf, eine Abkürzung nehmen zu wollen. Auf die Idee sind schon andere vor euch gekommen und haben gemerkt, dass das keine kluge Entscheidung war.“
Wie will er das überprüfen?, überlegte Cizan. Ist aber wahrscheinlich besser für mich, wenn ich nicht versuche, das rauszufinden. Der Lord würde schon seine Vorkehrungen getroffen haben.
„Naer eins, drei, fünf, sieben und neun. Ihr bildet eine Gruppe. Naer zwei, vier, sechs, acht und zehn. Ihr seid Gruppe zwei. Auf mein Signal lauft ihr los“, beendete der Hauptmann seine Erklärung. Dann hob er den Arm.
„Fertig!“ Die Stimme des Lords schien die Luft zu zerschneiden.
„Los!“ Wie eine Herde aufgeschreckter Tiere stürzten die jungen Rekruten davon.
Die Übung brachte ihnen gleich die erste Lektion bei: Das Gelände der Festung Brekan war groß. Sehr groß. Die Runde erschien wie eine Ewigkeit und einige der Jungen hatten sich am Anfang etwas übernommen. Schwer atmend kamen sie wieder beim Nordturm an. Einige von ihnen waren kurz davor, schlapp zu machen. Cizan war erschöpft, aber erleichtert. Lord Naer verkündete mit dem Eintreffen des Letzten, dass die zweite Gruppe zuerst komplett angekommen war und somit keine Extra-Runde aufgebrummt bekam. Dann gebot er den Rekruten, ihm zu folgen. Sie marschierten über den Hof und kamen an einigen abgegrenzten Arealen vorbei. Dies schien der Ort zu sein, wo die Soldaten trainierten. Man sah Krieger, welche diverse Nahkampftechniken ein ums andere Mal wiederholten, eine Bahn für Reiter, aber auch eine Riege Bogenschützen, die ihre Pfeile in mit Stroh ausgestopfte Puppen jagten.
Ihr Ziel war einer dieser Übungsplätze. Würden sie heute etwa schon mit dem Kampftraining beginnen? Cizan konnte zumindest Waffenständer mit Schwertern erkennen. Ein paar Exemplare bestanden offenbar aus Holz und waren vermutlich nur für Grundübungen gedacht. Daneben entdeckte der junge Mann aber auch echte Schwerter und einige Schilde. Sobald die Jungen sich aufgereiht hatten, begann Lord Naer mit einigen harsch gebellten Anweisungen:
„So, Rekruten. Ab heute habt ihr zwei neue beste Freunde: Euer Schwert und euren Schild. Je besser ihr damit umgehen könnt, desto länger lebt ihr auch.“ Er ging zu den Waffen und nahm zwei der Holzschwerter. Dann stellte er sich wieder vor der Gruppe auf.
„Naer Nummer sieben!“
„Jawohl, Hauptmann“, antwortete ein schmächtiger Junge direkt neben Cizan. Der Lord nickte und hielt ihm eins der Schwerter hin.
„Hier, nimm das.“ Der Rekrut war offensichtlich ein wenig verunsichert, befolgte aber die Anweisung seines Vorgesetzten.
„Jetzt greif mich an“, befahl dieser. Einen Moment zögerte der Junge. Dann hob er die Waffe, holte aus und schlug nach dem Soldat vor ihm. Dieser schritt elegant beiseite und trat dem Angreifer gleich darauf das Schwert aus der Hand.
„Zurück in die Reihe, Nummer sieben“, wies er den Rekrut an. Als der bedröppelte Schüler sich wieder eingeordnet hatte, fuhr er fort:
„Wie ihr seht gibt es einen Unterschied zwischen Kämpfen und mit dem Schwert herumfuchteln. Ich werde euch heute mit einigen Grundtechniken vertraut machen. Die werdet ihr bis zur Mittagspause üben. Danach kommt ihr wieder hierher zum Trainingsplatz und macht damit weiter.“
Er ließ seinen Blick kurz auf den jungen Männern ruhen.
„Verstanden?“
„Jawohl, Hauptmann“, kam es halbwegs einstimmig, wenn auch verbesserungswürdig von den Rekruten. Für den Lord war das auf keinen Fall gut genug.
„Hören sich so etwa Krieger an? Ihr seid hier bei der Armee! Wenn ihr euch weiter so benehmt wie ein Haufen Bauerntölpel, dann werdet ihr auf dem Schlachtfeld keine fünf Minuten überleben!“, brüllte er. „Habt ihr mich verstanden?“
„Jawohl, Hauptmann!“ Das war wesentlich zackiger gewesen. Doch auf dem Gesicht des Ausbilders ließ sich kein Zeichen von Anerkennung entdecken. Seine Miene blieb eisern.
„Es wird nicht herumgetrödelt! Der Letzte, der nach dem Mittag wieder hier ankommt, putzt heute Abend die Latrine“, kündigte er an. Es war mittlerweile allen klar, warum die anderen Soldaten sich ständig so beeilten.
Den ganzen Vormittag über lernten Cizan und die Anderen, wie man richtig stand, das Schwert korrekt hielt und wie man es führte. Das wiederholten sie bis zum Erbrechen. Pausen gab es nur, wenn der Lord etwas erklärte. Mit dem erlösenden Mittagsgong räumten die gebeutelten Schüler ihre Trainingsgeräte auf und trabten zum Nordturm.

Am Nachmittag setzten die Rekruten dort an, wo sie aufgehört hatten. Lord Naer prüfte, wie gut sie die neuen Techniken bereits anwendeten.
„Naer drei, dich pustet der nächste Windhauch um“, kommentierte er die Standfestigkeit eines blonden Jungen. Mit einem gekonnten Schlag brachte der Ausbilder seinen Schüler aus dem Gleichgewicht und schickte ihn zu Boden.
„Aufstehen und nochmal! Die Beine parallel!“ Der Junge presste die Lippen zusammen und stemmte sich wieder hoch. Dann versuchte er es erneut – nicht ohne ein weiteres Mal von dem Hauptmann zusammengestaucht zu werden.
„Nennst du das etwa parallel?!“
Es gab fast keinen Rekruten, an dem der Lord nichts auszusetzen hatte. Cizan gab sein Bestes, alles so auszuführen, wie er es von dem alten Meister gelernt hatte.
„Du beugst dich zu weit vor, Nummer acht.“ Sofort korrigierte der junge Mann seine Haltung und hoffte, das würde seinen Lehrer zufriedenstellen.
„Besser“, war dessen Bewertung, während er sich Nummer neun zuwandte.
Am Ende des Tages war Cizan völlig fertig. Das Training war anstrengend und fordernd gewesen. Seine Muskeln brannten. Wie ein Sack Mehl schleppte er sich mit den anderen zum Abendessen. Es gab abermals einfache, nahrhafte Kost. Doch nach einem harten Tag schmeckte jedes Essen gut genug. Das war für den Bauernsohn ohnehin nichts Neues. Ähnlich verhielt es sich mit dem Schlafplatz.
„Hey, fehlt da nicht einer?“, fragte irgendjemand in die Runde, während Cizan sich seine Decke überwarf.
„Angis muss doch noch Latrine putzen“, erwiderte ein anderer Rekrut.
„Ach ja, stimmt ja. Na hoffentlich wäscht er sich danach nochmal.“ Vereinzeltes Gelächter kam auf, ebbte jedoch schnell wieder ab.
„Armes Schwein“, seufzte ein Junge.
Es wurde schnell recht ruhig im Schlafsaal. Nur hier und da waren ein paar leise Gespräche zu hören. Cizan blendete sie aus. Er war hundemüde. Der Tag war wie im Flug vergangen. Wie seltsam sich das alles anfühlte. So unwirklich, als würde es gar nicht ihm passieren. Gerade eben noch war die Welt normal gewesen und nun? Jetzt war er hier, lernte zu kämpfen, weit weg von Zuhause. Die Aussicht auf Rückkehr war ungewiss.
„Mama, Vater, Josa. Wahrscheinlich sehe ich euch nie wieder!“ Ein Teil von ihm wollte das nicht akzeptieren. Es sollte nicht wahr sein!
Vielleicht -“, flüsterte er. „Vielleicht kann ich es schaffen. Wenn ich überlebe, kann ich zurückkehren. Ich muss es wenigstens versuchen.“ Das war eigentlich ein lächerlicher Gedanke. Doch es war auch das Einzige, was Cizan blieb. Mit diesem Gedanken im Herzen schloss er die Augen und nur einen Moment später hatte der Schlaf ihn übermannt.

 

Unbarmherzig

Teil 2

Es war eine klare Nacht, eine Nacht für Visionen. Fast schien es Vyari, als könnte sie das stumme Wispern der Sterne auf ihrer Haut spüren. Der Wind strich sachte um ihre grazile Gestalt herum und spielte mit den Blüten ihres tiefschwarzen Haares. Spitzbübisch entführte er eine davon und trug sie in einem sanften Tanz über die Lichtung. Schließlich legte er sie in der Hand von Siltalis ab, der gerade die Lichtung betrat. Vyari hatte ihn schon gespürt, bevor er auch nur einen Fuß auf das weiche Gras gesetzt hatte. Sie öffnete die Augen und musterte ihren Vertrauten. Er bewegte seinen schlanken Körper mit einer leichten Unsicherheit. Auch wenn er die Anzeichen dafür zu verbergen suchte, las Vyari sie doch in den sanften Zügen des Mannes und in seinen braunen Augen.

„Was ist es, Siltalis?“, wollte sie wissen. Der Feelist lächelte ertappt.

„Du kennst mich zu gut, Herrin“, erwiderte er. Sein Lächeln erstarb. „Da ist jemand, der dich sprechen möchte.“

Vyari hob ihre Augenbrauen kaum merklich an. Davon hatte sie nichts gesehen. Aber das Schicksal war launenhaft und offenbarte nur wenige, kurze Einblicke in sein Gefüge. Die Fee fragte sich, wer dieser Bittsteller sein konnte, den Siltalis nicht sofort beim Namen nannte. Seine zögernde Haltung sprach eher für eine unangenehme Angelegenheit.

„Wer ist es?“

Ihr Berater zauderte einen Augenblick.

„Ein Mahni namens Itca“, antwortete er dann. Die Augen seiner Herrin verengten sich zu Schlitzen und ihre Stimme klang auf einmal frostig.

„Was will er?“, forschte sie nach.

„Das möchte er dir selbst sagen.“ Natürlich. Der Bote würde nicht den langen und anstrengenden Weg auf sich nehmen, um von einem Mittelsmann abgespeist zu werden. Doch das war der Fee gleich. Und so befahl sie: „Ich werde ihn nicht anhören. Schick ihn weg.“

Einen kurzen Moment lang war nur das Rauschen des Windes zu hören. Dann neigte Siltalis den Kopf vor seiner Königin.

„Wie du wünschst“, antwortete er. Vyari sah ihm nach, als der Feelist die Lichtung verließ. Er war ihr treu ergeben wie niemand sonst. Wenn sie sich auf jemanden verlassen konnte, dann war er das. Und Siltalis hätte sie nie so verraten wie ihre Schwester. Die Fee ballte ihre vor Wut zitternden Hände zu Fäusten. Niemals würde sie ihr verzeihen. Und mit einem Boten würde sie schon gar nicht sprechen. Wie konnte er es wagen, überhaupt hierher zu kommen? Erinnerungen tauchten vor Vyaris innerem Auge auf und verdrängten die Bilder ihrer Visionen. Erinnerungen, die sie schon so lange zu verdrängen versucht hatte. Itca hatte sie zurückgebracht. Schon allein deshalb war sie verärgert.

Ein Rascheln durchbrach die gespannte Stille. Nicht wie Blätter, sondern wie Federn. Der Schatten eines großen Vogels senkte sich vom Nachthimmel herab und der Bote landete auf der Lichtung. Auch im Zwielicht der Nacht konnte man seine Schönheit und Eleganz erkennen. Brust und Krallen schimmerten rot wie der Sonnenuntergang, das Gefieder schneeweiß und dunkelblau wie das Firmament. Das Mahni breitete die Flügel aus und verbeugte sich tief.

Vyari war erstarrt. Itcas Maßlosigkeit beleidigte sie zutiefst. So stand die stolze Frau vor dem unliebsamen Gast und kämpfte gegen die aufwallenden Gefühle an. Auf ihrem schmalen, blassen Gesicht spiegelte sich der Zorn und funkelte wie Feuer in ihren dunklen Augen. Sie wollte ihn anschreien, ihm wehtun. Doch dann würde sie ihre Überlegenheit verlieren. Die Königin musste Herrin über die Situation bleiben und so nahm sie all ihre Kraft zusammen, um ihre Wut zu zügeln. Langsam verschwand der Ausdruck der Erregung aus ihrem Gesicht und wich einer kühlen Maske. Mit Verachtung in der Stimme wandte Vyari sich an den Boten:

„Was auch immer du hier suchst, du wirst es nicht finden. Kehr dahin zurück, wo du hergekommen bist.“ Das Mahni richtete sich auf und sah sie an. Er machte keine Anstalten, davonzufliegen.

„Bitte, hört mir zu“, setzte er an. Das Krächzen in seiner Stimme war geblieben - auch wenn man hörte, dass Itca in der Sprache der Aufrechtgehenden geübt war. Doch Vyari schnitt ihm das Wort ab.

„Warum sollte ich?“

„Weil es um die Sicherheit Eures Volkes, ja Eures gesamten Waldes geht“, war die Antwort des Mahni. Die Fee musterte ihn. Natürlich wollte er erreichen, dass sie sich anhörte, was er zu sagen hatte. Allerdings erkannte sie auch echte Besorgnis. Das irritierte Vyari. Sie war sich keiner Gefahr bewusst, die die Feen bedrohen könnte. Die Menschen hatten schon vor langer Zeit begriffen, dass man sich mit den Bewohnern des Waldes nicht anlegte.

„Mein Volk ist stark. Was sollten wir fürchten?“

Herausfordernd sah sie Itca an, doch dieser ließ sich davon nicht beirren.

„Aus den Bergen kommt ein dunkler Geist. Seine Anhänger säen Zerstörung, wo sie nur hinkommen. Sie sind mächtig und selbst die Krieger der Menschen und die Mahni können sie nicht aufhalten.“

„Was interessieren mich die Menschen?“, unterbrach Vyari ihn.

„Er wird vor Euch auch nicht haltmachen“, beharrte Itca. „Er strebt danach, alles zu beherrschen. Sobald er uns geschlagen hat, wird er sich Euch zuwenden. Allein werdet Ihr ihn nicht besiegen können.“ Er hatte seine Worte sehr klug gewählt. Doch die Feenkönigin blieb abweisend. Sie weigerte sich zu glauben, was er da sagte. Der Verrat ihrer Schwester saß zu tief.

„Und jetzt schlägst du vor, dass wir euch im Kampf unterstützen sollen“, schlussfolgerte sie korrekt.

„Nur gemeinsam haben wir überhaupt eine Chance.“

Vyaris Miene war wie versteinert.

„Meine Antwort lautet Nein“, erklärte sie.

„Majestät!“, insistierte Itca, doch die Königin ließ ihn nicht weiter zu Wort kommen.

„Schweig!“, fuhr sie ihn an. Für einen kurzen Moment hatte sie die Beherrschung verloren.

„Sollte dieser Geist tatsächlich meinen Wald angreifen, dann wird er den Zorn der Feen zu spüren bekommen. Wir sind mächtig genug, um uns zu verteidigen. Aber ich werde mein Volk nicht in einen unnötigen Krieg ziehen lassen. Und schon gar nicht an der Seite der Menschen! Niemals, hörst du?“

Itca schien zu wissen, dass er die Fee wohl nicht mehr umstimmen konnte. Trotzdem wagte er noch einen letzten Versuch.

„Vyari! Ihr könnt euch vor der Wahrheit nicht verschließen! Warum sollte ich Euch belügen? Ich wäre niemals hierher gekommen, wenn es nicht so ernst wäre. Zu glauben, dass dieser Geist euch verschont oder ihr ihn gar schlagen könntet – das ist eine Illusion! Wenn Ihr das Bündnis ausschlagt, besiegelt ihr nicht nur unser Schicksal, sondern auch Eures!“

„Genug!“, wies Vyari das Mahni zurecht. Der Vogel zuckte zusammen, schwieg aber. Die Frau kehrte ihm den Rücken. Leise, aber mit schneidender Stimme fügte sie hinzu:

„Wir werden euch nicht helfen! Das ist mein letztes Wort. Und jetzt verlass meinen Wald, auf der Stelle!“ Für einen Augenblick war es erdrückend still. Schließlich hörte sie, wie Itca sich in die Lüfte erhob und in die Nacht hinaus verschwand. Bald waren seine Flügelschläge verklungen. Erneut war es still auf der Lichtung.

 

Vor dem Sturm

Teil 1

Cizan öffnete die Augen. Einige Minuten lang blieb er auf seinem Lager liegen und starrte in das finstere Nichts um ihn herum. Er lauschte den Geräuschen der anderen Schlafenden: Die meisten atmeten ruhig oder schnarchten friedlich. Einer der Rekruten wälzte sich in regelmäßigen Abständen herum. Ein anderer stöhnte und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.

Auch Cizan fand keine Ruhe. Die Erschöpfung presste seinen Körper zu Boden, doch sein Kopf war klar. Da lag er nun, hellwach und schwitzend unter seiner Decke. Cizan schob sie beiseite, weil er das Gefühl hatte, er müsste sonst vor Hitze umkommen. Nur wenig später zog ein kalter Lufthauch vom Fenster herüber und ließ ihn frösteln. Je mehr der junge Rekrut sich wünschte, dass ihn die Müdigkeit endlich übermannen würde, desto aufgewühlter wurde er. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Cizan erhob sich so leise wie möglich von seinem Lager. Mittlerweile hatten sich seine Augen an das wenige Licht gewöhnt. So bahnte er sich einen Weg durch den Schlafsaal, stieg vorsichtig über seine schlafenden Kameraden hinweg und trat schließlich auf den Flur. Stille umfing ihn, kaum dass er die Tür hinter sich ins Schloss gedrückt hatte. Endlich allein. Der junge Mann seufzte erleichtert.

„Kannst du auch nicht schlafen?“

Cizan fuhr herum. Er konnte die Gestalt eines Mannes ausmachen, der auf dem Treppenabsatz hockte. Die Stimme hatte er schonmal gehört, aber er konnte sie nicht sofort zuordnen.

„Ich … naja, ich muss mich mal erleichtern“, gab Cizan zur Antwort.

„Na dann will ich dich nicht aufhalten“, erwiderte der Mann in der Dunkelheit. „Eine so dringliche Angelegenheit sollte man auf keinen Fall warten lassen.“ Er kicherte.

Cizan sagte darauf nichts, wandte sich um und ging den Gang hinunter. Dieses Lachen kam ihm auch ein wenig bekannt vor. Er grübelte und auf dem Rückweg von den Toiletten fiel es ihm schließlich ein. Der junge Rekrut kehrte zur Treppe zurück.

„Du bist immer noch hier“, stellte er fest und ließ sich neben Adra nieder. Der brummte eine Zustimmung.

„Du wirst morgen müde sein. Das ist nicht gut.“

„Ich kann so oder so nicht schlafen. Da bin ich lieber hier als dort drin bei dem schwitzenden und schnarchenden Haufen.“ Cizan hörte, dass der andere Mann grinste. „Ich sollte versuchen, befördert zu werden. Vielleicht schaffe ich es hoch bis zum Hauptmann. Dann kriege ich vielleicht ein nettes Zimmer ganz für mich allein.“

„Dafür müsstest du morgen fit sein“, bemerkte Cizan.

Adra lachte auf.

„Ja, ja das stimmt. Ohne Fleiß, kein Preis.“ Einen Augenblick lang saßen die beiden Soldaten wider Willen schweigend nebeneinander. Als der Ältere erneut sprach, hatte seine Stimme einen ernsten Ton angenommen.

„Du bist auch in der Infanterie, richtig?“

Cizan wusste nicht so richtig, was er von der Frage halten sollte.

„Ja“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Aber worauf willst du hinaus?“

Adra seufzte.

„Junge, ich möchte dir einen Rat geben. In diesem Krieg hängt dein Leben nur bedingt von dir selber ab. Ob du stirbst oder überlebst, kannst du kaum beeinflussen. Was in der Schlacht passiert und welche Mittel du zur Verfügung hast, ist entscheidend. Wenn du Mann gegen Mann kämpfst, hast du es in der Hand. Wenn du einem Mahni gegenüberstehst oder Kriegsmaschinen auf dich schießen, sieht das schon anders aus.“

Die Vorstellung, dass diese Situation tatsächlich bald eintreten könnte, ließ Cizan erschaudern. Bis jetzt hatte er versucht, solche Gedanken zu verscheuchen und zu hoffen, dass er es irgendwie schaffen würde. Doch natürlich wusste er insgeheim, wie naiv das war.

„Dein Überleben wird hauptsächlich in der Hand anderer liegen. Das ist hart, aber das ändert nichts daran, wie es ist.“ Er hielt einen Moment inne, dann fuhr er fort: „Ich habe bei der Registrierung gelogen. Ich bin sechsunddreißig Jahre alt. Aber was für einen Grund hätte ich gehabt, mich sozusagen um zwei läppische Jahre jünger zu machen?“

Cizan runzelte die Stirn. Dann stellte er fest:

„Du wärst bei den Imas.“

„Genau“, bestätigte Adra. „Das ist die Gruppe mit den ältesten Männern. Die, die am wenigsten belastbar sind und am schnellsten müde werden. Das sind diejenigen, die am entbehrlichsten sind.“

Eine drückende Stille entstand und Cizan hatte das unangenehme Gefühl, als würde die Last des Gesagten über ihnen schweben, drohend und schwer wie eine Gewitterwolke kurz vor dem Sturm.

„Das ist nur ein Faktor“, durchbrach sein Kamerad das Schweigen. „Ich will sagen: Entgegen allem, was nicht in deiner Macht liegt – versuche, dich so unentbehrlich wie möglich zu machen.“

Das wenige Mondlicht, das von draußen hereinfiel, beleuchtete Adras Gesicht. Es ließ seine Haut fahl wirken, wogegen Bart und Falten in tiefe Schatten gehüllt wurden. Doch das, was Cizan fesselte, war sein Blick. Es lag eine Dringlichkeit darin, der er sich nicht entziehen konnte. Der junge Mann fragte sich, ob es Schicksal war, dass Adra ausgerechnet ihm diesen Rat erteilte. Vielleicht kümmerte er sich aber auch einfach um seine Kameraden und half jedem, der sich helfen lassen wollte. Cizan erinnerte sich an die Rast auf dem Weg zur Festung. Hinter Adras lockerer Art verbarg sich eine gewisse Schwermütigkeit. Der ehemalige Bauer hatte der Wirklichkeit ins Auge gesehen. Und doch schien er sich nicht damit abfinden zu können. Es war etwas, das sie beide teilten. Obwohl er diesen Mann kaum kannte, fühlte sich Cizan auf eine gewisse Art und Weise verbunden mit ihm.

„Danke für den Rat“, sagte er und erhob sich. „Du solltest wirklich befördert werden. Das wäre gut für die Männer.“ Er wandte sich zum Gehen. Adras Stimme folgte ihm in den Schlafsaal:

„Aber nicht für den Krieg.“

 

Vor dem Sturm

Teil 2

Wie viele Tage waren vergangen? Cizan wusste es nicht. Er hatte schon seit einiger Zeit keinen Überblick mehr. Mit jedem Morgen kam die selbe Prozedur. Doch dieser Morgen war anders.

„Soldaten, zuhören!“

Tithon Ima hatte sich vor dem erhöht liegenden Tisch der Hauptleute aufgebaut. Das Gemurmel, welches normalerweise die Speisehalle erfüllte, verstummte. Der Hauptmann blickte mit dem für ihn typischen steinernen Gesichtsausdruck auf die Menge hinunter und erklärte:

„Nach dem Morgenmahl versammeln sich alle Soldaten im Hof vor dem Westturm. Jeder findet sich bei dem ihm übergeordneten Vorgesetzten ein. Korporäle zu mir! Der Rest: Weitermachen.“

Cizan blieb nach dieser Ansage immer noch wie erstarrt sitzen, das Gesicht dem Hauptmann zugewandt. Er beobachtete, wie mehrere Männer und einige wenige Frauen sich erhoben und zum Tisch der Hauptleute hasteten. Eine große Versammlung? Das hatte es bisher nicht gegeben. Was also hatte das zu bedeuten? Cizan überkam ein mulmiges Gefühl. Er wandte den Blick nach unten auf seine Schüssel als könnte der Getreidebrei ihm mehr verraten. Der blieb stumm, dafür meldete sich jemand anderes zu Wort.

„Dann geht es also bald los“, hörte Cizan irgendwen vom Nachbartisch sagen.

„Sieht so aus“, murmelte ein anderer und ein Dritter korrigierte:

„Eher sehr bald.“

Raunen erfüllte die Halle, schwoll aber nicht wieder zur Lautstärke der üblichen Tischgespräche an. Etwas Unheilvolles schwang darin mit, wie wispernde Winde, die sich zu einem tosenden Sturm vereinen würden. Wohin Cizan auch blickte – die meisten anderen schienen das widerzuspiegeln, was er fühlte: Unbehagen. Wortlos schlang er den Rest seines Frühstücks hinunter. Die anderen am Tisch taten es ihm gleich. So saßen sie schweigend beieinander, jeder in seine eigenen unruhigen Gedanken gehüllt.

Irgendwann ertönte der Gong und der Raum begann sich zu leeren. Immer mehr Leute strebten dem Ausgang zu. Cizan folgte dem Strom der Menschen nach draußen. Empfangen von einem herrlich blauen Himmel – der so gar nicht zu der drückenden Stimmung passen wollte – eilte er über den Hof, dem Versammlungsplatz entgegen. Mit ihm all die anderen. So viele Soldaten auf einem Haufen – das gab es sonst eben nur zu den gemeinsamen Mahlzeiten.

Bei der Mauer des Westturms war ein Podium aufgebaut worden. Vor der einfachen Holzkonstruktion hatten sich schon die meisten Soldaten eingefunden. Angeleitet von den Korporälen begannen sie, sich in Reihen aufzustellen. Cizan versuchte, in dem Getümmel seinen Herrn, Lord Naer, ausfindig zu machen. Das stellte sich als schwieriges Unterfangen heraus. Überall um ihn herum waren Menschen und redeten oder brüllten durcheinander. Eine Ordnung stellte sich nur langsam ein. Da entdeckte er Tarek, der zu seiner Gruppe gehörte und zielstrebig in eine Richtung verschwand. Ohne weiter zu überlegen folgte Cizan seinem Kameraden, schob sich durch die Menge und da sah er endlich seinen Vorgesetzten. Der war gerade dabei, einige Jungen anzuweisen.

„Hier rüber, Nummer acht!“, rief er, als er Cizan erblickte.

Sofort folgte der junge Mann dem Befehl des Lords und reihte sich mit ein. Es dauerte noch einige Zeit, doch schließlich hatte sich aus der wabernden Menschenmasse eine strukturierte Einheit formiert. Ein Meer aus Köpfen starrte gespannt nach oben zum Podium.

Kurz darauf bauten sich dort vier Männer auf. Mit ihren im Wind flatternden Mänteln erweckten sie den Eindruck, als hätten sie sich in Flammen gekleidet. Cizan erkannte die Hauptmänner Ima, Anith und Naer. Den vierten hatte er aber noch nie gesehen, da war er sich ziemlich sicher. Der unbekannte Soldat musste schon ziemlich alt sein. Sein kurzgeschorenes Haar war schneeweiß. Es sah fast so aus, als wäre sein Kopf mit Raureif überzogen. Im Kontrast dazu stand seine von einigen Falten durchzogene, bronzefarbene Haut. Ähnlich wie die anderen Ranghohen zeigte er sich stoisch und energisch. Doch wenn man genauer hinsah, fiel auf, dass eine gewisse Geschmeidigkeit in den Bewegungen des alten Hauptmanns lag. Cizan konnte von seinem Standpunkt nicht viel mehr erkennen, aber selbst mit seinem begrenzten Blickwinkel strahlte der Fremde etwas aus, dass ihn auf eine sonderbare Art und Weise faszinierte.

Der unbekannte Befehlshaber trat vor und erhob die Stimme:

„Soldaten!“ Er schien sich beim Sprechen nicht anzustrengen und doch konnte man ihn deutlich verstehen. „Mein Name ist Zefaraz. Ich bin ein Hauptmann in dieser Armee, zu der ihr gehört. Diese Armee wurde aufgestellt, um unsere Heimat und unser Volk vor dem Dunklen Geist zu schützen. Er ist mit seinen Lakaien in unser Land eingefallen. Er säht Zerstörung, wo er hingeht, plündert unsere Siedlungen und tötet die Menschen, die dort in Frieden lebten. Wir dürfen das nicht zulassen! Wir – diese Armee – wir sind die, die ihn aufhalten müssen. Denn wenn niemand ihn aufhält, wird er mit seinen Gefolgsleuten weiter durch diese Lande ziehen und alles an sich reißen, alles zerstören, was uns lieb und teuer ist. Denkt an die Frauen und Kinder, an die Alten – denkt an all diejenigen, die ihm hilflos ausgeliefert sind, wenn wir sie nicht beschützen.“ Zefaraz machte eine kurze Pause und ließ seine Worte nachwirken. Cizans Gedanken wanderten unweigerlich zu seiner Familie. Sein Vater, seine Mutter und sein kleiner Bruder – was würde passieren, wenn die Krieger des Dunklen Geistes den Hof überfielen? Die anderen Bauern, die kleine Stadt in der Nähe mit dem Marktplatz am Brunnen, die Mühlen am Fluss – was würde aus ihnen werden? Bilder drängten in seinen Kopf, schreckliche Vorstellungen von Tod und Verwüstung. Er wollte nicht daran denken. Er wollte sich diese Dinge nicht vorstellen. Denn was, wenn sie es eben nicht konnten? Wenn sie den Dunklen nicht aufhalten konnten, dann wären nicht nur die Soldaten verloren. Und dieser Gedanke ließ bei Cizan einen gewaltigen Kloß im Hals entstehen.

Zefaraz sprach weiter:

„Ich bin hier, weil der Feind vor den Toren steht. Wir müssen uns ihm entgegenstellen. Dafür wurden wir zusammengerufen und ausgebildet. Ihr werdet vielleicht denken, dass ihr nicht bereit seid. Doch ich sage euch, dass ihr euch nie bereit fühlen werdet.“

Cizan beobachtete verstohlen die Gesichter der umstehenden Rekruten. Einige hatten eine steinerne Miene aufgesetzt, doch vielen stand die Unsicherheit ins Gesicht geschrieben.

„Und doch spielt das keine Rolle“, fuhr Zefaraz fort. „Denn wenn wir gemeinsam auf dem Schlachtfeld stehen werden, wenn der Augenblick der Prüfung kommt, dann werdet ihr bereit sein. Wir alle werden bereit sein, alles aus uns herauszuholen und Kräfte zu wecken, die wir nie kannten, um den Feind zurückzuschlagen. Denkt daran, was ihr beschützen wollt. Mit diesem Wunsch können wir die größte Kraft entfesseln – eine Kraft, die unser Feind nicht besitzt.“

Nach der Rede des alten Hauptmanns blieb es totenstill auf dem Platz. Nur der Wind wehte durch die Reihen der Männer und Frauen. Sie standen reglos wie Statuen und schauten hoch zu dem Podest und zu Hauptmann Zefaraz. Tithon Ima trat nun ebenfalls vor. Seine kräftige Stimme durchbrach das Schweigen:

„Wir rücken im Morgengrauen aus. Bis dahin gibt es viel vorzubereiten. Jeder Soldat meldet sich umgehend bei seinem Regiment, um seinen Platz und seine Aufgaben zugeteilt zu bekommen. Regiment Naer versammelt sich beim Ostturm, Regiment Ima bleibt hier beim Westturm, Regiment Anith versammelt sich beim Nordturm, und Regiment Phaly beim Südturm.“ Hauptmann Ima blickte kurz in die Runde.

„Wegtreten!“

Sofort kam Bewegung in die Menschenmenge. Zügig und zackig dröselten die Reihen sich auf. Soldaten strebten in verschiedene Richtungen davon, um dem Befehl des Hauptmanns nachzukommen. Cizan wartete einen kurzen Moment, bis die Rekruten um ihn herum auseinandergegangen waren. Dann machte er sich zum gegenüberliegenden Teil der Festung auf. Seine Beine schienen von selbst zu wissen, wohin sie gehen mussten. Sie waren das Gelände der Festung in der letzten Zeit so oft abgelaufen, dass er den Weg im Schlaf hätte finden können. Ohne einen Gedanken bahnte er sich einen Weg durch die Menschenansammlungen, einfach nur dem Befehl des Hauptmanns folgend. Erst als er am Ostturm ankam, schlichen sie sich in seinen Kopf.

Das ist das Ende.

Was soll ich nur tun? Was?

Ich will das nicht!

Du kannst es nicht ändern.

Es kommt auf dich zu. Du kannst es nicht aufhalten.

Du kannst nicht weglaufen.

Angst hatte den jungen Mann ergriffen. Sie umfing ihn, ließ ihn erstarren. Und inmitten der Menschen um ihn herum fühlte Cizan sich auf einmal völlig hilflos und allein.

Ein Stoß riss ihn aus seinem Gefühlskäfig heraus.

„Steh nicht so dumm rum, Rekrut“, hörte er jemanden von der Seite sagen. Bevor Cizan etwas erwidern konnte, war der Andere schon weitergegangen.

Ich muss mich melden, dachte Cizan. Das Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals. Er konnte nichts tun. Doch er musste den Befehlen folgen. Wie auf’s Stichwort schaltete sich nun der Soldat in ihm ein:

Die Lage erfassen.

Wer ist zuständig?

Wie komme ich am besten dorthin?

Was muss ich beachten?

Er hatte keine Zeit, sich mit seiner Angst zu befassen. Zumindest nicht jetzt.

 

Vor dem Sturm

Teil 3

Cizan öffnete die Tür zum Lagerraum. Er war mit dafür eingeteilt worden, die Packpferde zu beladen. Er stieg die Stufen hinunter, sah sich um und fand die Vorratssäcke, nach denen sein Gruppenleiter Eram ihn geschickt hatte. Gerade wollte er sich zwei davon über die Schultern werfen, als er Schritte hinter sich hörte. Sein Blick wanderte zum Eingang des Raumes. Eine Frau stiefelte durch den Keller und machte bei einem Satz Speere halt. Cizan erkannte Ileth. Sie war an seinem ersten Tag in der Festung ebenfalls neu nach Brekan gekommen. Als Freiwillige. Sie sah zu ihm herüber.

„Was guckst du so?“

Cizan wandte den Blick ab.

„Entschuldige“, nuschelte er.

Ileth runzelte die Stirn, drehte sich aber ohne einen weiteren Kommentar um und begann, einen Stapel Speere zu verschnüren. Cizan setzte noch einmal an, seine Last hochzuhieven, entschied sich jedoch anders und ließ die Beutel vorsichtig wieder zu Boden sinken.

„Ileth?“, fragte er. „So ... heißt du doch, oder nicht?“

Die junge Frau hielt in ihrer Arbeit inne.

„Ja, so heiß' ich.“ Sie musterte ihn. „Was willst du?“

Jetzt hatte er sie angesprochen, also überwand Cizan sich, die Frage zu stellen, die ihm auf den Lippen brannte:

„Warum? Ich meine: Warum bist du hierher gekommen?“

Für einen Moment gab Ileth ihm keine Antwort, sondern schaute ihn nur erstaunt an.

„Willst du das wirklich wissen?“, hakte sie nach. Als Cizan mit einem Nicken bestätigte, fuhr sie leise fort:

„Na gut. Wenn du unbedingt willst, erzähl ich's dir. Mein Dorf wurde von den Kriegern des Dunklen überrannt. Sie haben geplündert, dann unsere Häuser angezündet. Jeden, der nicht fliehen konnte, haben sie getötet. Bis auf einige Frauen.“

Cizan starrte sie an. In seiner Miene spiegelte sich Entsetzen, als er verstand, was sie meinte. Ileth sprach weiter, weder ihr Gesicht noch ihre Stimme zeigten irgendeine Gefühlsregung:

„Ich hab überlebt, weil ich einem ihrer Hauptleute gefallen habe. Als er dann eines Abends betrunken in sein Zelt kam, konnte ich ihn niederschlagen und entkommen.“

Sie nahm ihr Waffenpaket und schnürte einen finalen Knoten. Dann hievte sie die Ladung hoch und sah wieder zu Cizan herüber. Er war die ganze Zeit still geblieben.

„Du willst wissen, warum ich hier kämpfe? Weil ich nichts und niemanden mehr habe. Aber ich kann anderen helfen. Wenn ich dafür sterbe, ein paar hilflose Leute zu beschützen, dann bin ich zufrieden.“

„Du könntest ein neues Leben anfangen“, rutschte es Cizan heraus und im selben Moment verfluchte er seine Unbedachtheit. „Verzeih mir. Das - sowas sollte ich nicht sagen“, stammelte er. Ileth überging seine Entschuldigung.

„Vielleicht ... könnte ich das.“ Für einen Augenblick sah sie ein wenig nachdenklich aus. „Aber ich glaube, ich würde mich furchtbar fühlen, weil ich weiß, dass Menschen sowas erleiden müssen und ich – vielleicht könnte mein kleines, dummes Leben etwas daran ändern.“

„Du musst nicht kämpfen“, warf Cizan ein. „Du könntest anderweitig helfen.“

„Ich weiß“, entgegnete Ileth. „Aber ich kann kämpfen. Und das Heer braucht Krieger.“ Sie schwieg für einen Moment. „Du hast noch Familie, oder?“

Cizan sah zu Boden.

„Du musst dich nicht schämen. Wenn ich noch jemanden hätte, würde ich auch nicht in den Krieg ziehen wollen.“

Cizan wuchtete endlich die Vorratssäcke hoch und schloss zu ihr auf.

„Danke für dein Verständnis. Ich bewundere sehr, was du tust.“

Ileth schulterte ihr Paket ebenfalls.

„Es ist schön, das von jemandem zu hören, der es ehrlich meint. Lass uns alles geben, was wir haben. Vielleicht kommen wir dann tatsächlich aus dem Kampf zurück. Dann kannst du deine Familie wiedersehen. Und ich könnte dann vielleicht wirklich ein neues Leben beginnen. Ist das nicht ein schöner Traum?“ Sie verzog das Gesicht zu einem bitteren Lächeln.

Cizan seufzte.

„Ja, das ist es.“ Schwer beladen verließen die beiden Kameraden den Raum.

 

Vor dem Sturm

Teil 4

Der Wind heulte über das Schlachtfeld. Wenn man genau hinhörte, schwangen seltsame Töne in ihm mit, als würde er schon in der Nacht vor dem Kampf die Toten des nächsten Tages beklagen.

„Du hattest recht. Die Wächter haben tatsächlich die Festung verlassen.“

Die Frau war als lautloser Schatten neben ihm aufgetaucht.

„Natürlich haben sie das. Vertraust du meinem Urteil etwa nicht mehr?“

Der Mann verzog den Mund zu einem Lächeln, das halb spöttisch und zugleich liebevoll wirkte. Sie trat näher zu ihm heran. Ihre Stimme war ein kaum vernehmbares Flüstern:

„Du warst es doch, der mir beigebracht hat, nichts und niemandem zu vertrauen.“ Der Wind fegte den beiden Gestalten eine eisige Böe entgegen. Sie schlang ihren Mantel enger um ihren schlanken Körper. „Bist du sicher, dass ich morgen nicht bei dir bleiben soll?“

Er drehte sich zu ihr um. Für einen Augenblick fiel Mondlicht auf ihr Gesicht, dann jagten wieder Wolkenschatten über den Himmel und hüllten die beiden in Dunkelheit.

„Mir wird nichts passieren. Aber es ist wichtig, dass alles nach Plan läuft. Und dazu muss-“

„Jede Figur an ihrem Platz sein, ja ich weiß.“ Die Frau atmete scharf aus. Weiße Dunstschwaden stiegen in die kalte Nacht auf und wurden sogleich von einem Lufthauch verwirbelt. „Ich mag nur keine unnötigen Risiken.“ Sie sah ihn an. Er erwiderte ihren Blick.

„Eben. Deswegen brauche ich dich morgen woanders. Komm, lass uns schlafen gehen.“

Als sie sich umwandten, riss ihnen ein Luftzug die Kapuzen vom Kopf. Er tanzte um sie herum, fuhr ihnen durch die dunklen Haare und ließ sie frösteln. Die beiden Gestalten kehrten der weiten Ebene den Rücken zu und gingen zu dem Lichtermeer zurück, das sich in der Finsternis der Nacht eingenistet hatte. Der Gesang des Windes folgte ihnen, doch schon bald hörten sie das hohle Seufzen des Metalls nicht mehr.