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Inbetween

Vorwort

Hi Leute! Ich eröffne hier jetzt mal ganz dreist eine kleine gemeinsame Runde.^^ Dazu ein, zwei kleine Anmerkungen: Zum einen werde ich nicht alles, was Jay erlebt, hier posten. Das wär zuviel des Guten und so gibt's halt auch bisschen was zum Entdecken (vielleicht). Zweitens: Ich hab mir nen Übungsleiter für's Einsatztraining überlegt. Rudimentär. Und weil ich viel Spaß hatte, heißt er Colonel Falk. Bei denen, die ihn nicht besonders mögen, heißt er dann auch manchmal "die Mistgabel".

Zum Schluss: Ich bin davon ausgegangen, dass zuerst jeder sein ganz individuelles Training hat, und wir erst später gemeinsames Einsatztraining haben (in meinem Stundenplan momentan montags 14-16, mittwochs 10-12 und freitags 8-10, aber das könnte sich ja noch ändern). Plus: Ich glaube, dass Hiroo als Letztes dazukommt, wenn ich das richtig im Kopf habe. Sollte irgendwas, das ich hier schreibe, nicht mit den Vorstellungen unserer Spielleiterin konform sein, haut mich. ;)

PS: Ich überlasse euch mal, ob ihr schon da seid oder noch kommt und schnappe mir obendrein die Schriftfarbe blau. ^-^

Charaktere: Jay - Hiroo - Gwen - Exit - Devy- Jackson

 

Die Memoiren eines Werdenden

Ein Held.

Bild gewordenes Ideal des menschlichen Strebens. Personifikation der Überwindung eigener Grenzen und Bedürfnisse. Taten so groß, dass selbst Geschichten sich verzücken lassen, von Ihnen zu berichten. Ein Held, die Grenzen zu überwinden zwischen Wirklichkeit und Fiktion.

Doch wie Geschichte Helden schreibt, so schreiben doch Helden nicht Geschichte. Nur der Andere schreibt. Nur seine Feder vermag zu beseelen. Und so begibt es sich, dass ein Individuum seinen Kiel in Tinte versenkt, um Taten Worte folgen zu lassen:

 

24.09.2028

Liebes Tagebuch,

Ich habe mich ja lange nicht mehr gemeldet, aber ich war auch unterwegs. Ich habe nämlich neue Freunde kennengelernt. Jay, Hiroo und die kleine Gwen. Jay ist zwar ein Grummel und die anderen beiden ein wenig klein, aber wir hatten ganz viel Spaß. Ich glaube, Gwen mag ich am meisten. Ich hoffe, Sie bleibt immer so, wie Sie ist. Wir haben etwas Gutes getan. So wie das sonst Helden immer machen – so richtig mit Feuer und Kämpfen. Gut, das mit dem Feuer war eigentlich hauptsächlich Hiroo. Aber fasst wären wir sogar Gabelstabler gefahren. Das war aufregend.

Die Anderen können auch besondere Sachen wie ich. Also eigentlich können die ganz andere Sachen, aber die sind alle an einem Ort, wo Leute mit besonderen Fähigkeiten eben sind. Das ist wie so ein Camp mit Training und gemeinsam wohnen. Frau Jackson wollte eigentlich, dass ich auch mitkomme und anfange richtig für Sie zu arbeiten. Frau Jackson ist die, die uns immer sagt, was wir gerade machen sollen. Ich wäre total gern mit in das Camp gegangen. Mir fehlt das Training von früher und ich möchte so gern neue Abenteuer mit meinen neuen Freunden erleben.

Ich möchte Gutes tuen. Aber das geht gerade noch nicht. Deswegen bin ich ganz schön traurig, liebes Tagebuch. Zumindest hat mir Mrs. Marple gesagt, dass sich so traurig sein anfühlt. Aber ich muss jetzt noch ein paar Wochen traurig sein, bis ich auch ins Camp gehen kann. Mrs. Marple benötigt nämlich meine Hilfe im Marples Ale. Sie sagt immer: "Besonders jetzt, wo bald die Weinachtszeit kommt." Ich weiß nicht genau, was Sie damit meint, aber diese Zeit geht sogar bis in den Januar. Ich weiß, dass Sie es nicht böse meint. Und ich glaube, Sie macht sich auch ganz schön Sorgen, dass ich wohl bald für längere Zeit weggehe. Vllt war es auch nicht richtig, dass ich Ihr nicht Bescheid gesagt habe, als ich vor ein paar Tagen zur Organisation aufgebrochen bin. Aber ich habe Ihr versprochen, Ihr regelmäßig zu schreiben, sobald ich wieder im Camp bin. Und Bob ist ja auch noch da, um auf Sie aufzupassen.

Bis ich auch ins Camp kann, werde ich hart trainieren. Morgen Abend habe ich wieder meine Show und am Donnerstag ist auch Giovanni wieder da. Da freu ich mich drauf. Ich werde der Beste Schausteller, den es je gab. Die Anderen werden bestimmt staunen, wenn Sie mich wieder sehen. Achja, und Sport muss ich glaube ich auch wieder mehr machen. Ich denke, ich werde mich wieder in der Nacht rausschleichen, wenn der Pub schließt. Ich glaube, im Wald kann ich gut trainieren. Aber Tagebuch, das bleibt unser Geheimnis. Ich glaube, Mrs. Marple würde sich sonst nur noch mehr Sorgen machen.

Ich wünsche dir eine gute Nacht, Tagebuch. Ich weiß nicht, ob ich auch heute gut schlafen kann. Das war gestern schon so schwer.

Naja, bis bald

dein Exit

 

Episode 2

Tag 3 - Die verstrichenen Tage hatte Hiroo lediglich an der Anzahl der Mahlzeiten abzählen können. Mehr hatte sie hier unten bisher nicht erhalten. 'Maybe I shouldn't have called her an incompetent bakageta in front of sensei...' Ein eisiger Atem entwich ihrem Mund. Sie durfte keine Energie unnötig verschwenden. Sie müsste sie sich aufsparen. 'But it definitely wasn't my mistake this thing took fire.' Ihre müden Augen flogen über das Arena-artige eisige Gewölbe um Sie herum. Es war der gleiche Raum aus dem sie bereits einmal ausgebüchst war, weit unter der Erde irgendwo unter diesem Kampus. Doch dieses Mal waren provisorisch irgendwelche Energieschwämme als Platten in die Wände gelassen. Ein Ausbruch konnte sie sich so abschminken. 'They even took my ear drops. This really is hell and Jackson the administrator.' Sie stand auf. "Argh, you fuckers better give me some reason for all of this.", schallte ihr Stimme als Echo durch die vereinzelten Mauern der Arena. Aber selbst der Schall verstummte recht schnell. Sie stand noch bis das letzte Echo verstummte. Ihre Sinne waren gestärkt, genauso wie ihre Stimme scheinbar nicht nach aussen vordrang, drang auch kein Geräusch von aussen ein. "Damnit... this really stinks." Sie nahm sich die filzige Decke und hing sie über ein steinernes Stück Mauer. Sie bereitete sich für ihre Übungen vor. Sie hatte damals gelernt, dass sie nach Übungen mehr Essen zu erwarten hatte. Zwingend notwendig bei einem so erhöhten Energieausstoß. Sie musste ihre Technik jedoch noch verfeiern. Unbemerkt vor den Augen die sie vermutlich durch die Kameras beobachteten. Jeden Tag fachte sie ihr inneres Feuer weiter an. Satoshi Imaru würde sich aber nur schwer täuschen lassen. Seit dem ersten Tag hatte er ihr Potential nahezu punktgenau abschätzen können und gegen sie einsetzen können. Stunden brachte sie so mit ihrem Training zu. In Gedanken ihre eigenen Melodien summend. Wie aus einer Trance erwachte sie kalt in Schweiß gebadet. Wann hatte sie das Bewusstsein verloren? Das Licht war gedimmt. Nach ihrer Vermutung Nacht. Sie zog sich in eine Mauerecke zurück und zog die filzige Decke über ihren kalten nun regungslosen Körper.

Eine Wärme breitete sich um Hiroo aus. Ihre Augen öffneten sich leicht und sie schaute sich verschwommen um. Sie lag in einem ausgerollten Futon am Fuße eines Bettes. Der Raum kam ihr bekannt vor. Das war ihr altes Schlafzimmer in San Francisco. Kreisförmig um sie herum breitete sich langsam eine Hitze den Boden entlang aus. Sie stand langsam wankend auf. In ihrem Bett sah sie ein Mädchen mit einer dunkelblauen Decke zugezogen liegen. Rote Haare huschten unter der Decke hervor. Wie in Trance sah sie Flammen die Wände ihres Schlafzimmers heraufzüngeln und ihre Poster in Stichflammen aufflackern. Rauch breitete sich aus. Sie musste sie wach kriegen. Sie erfasste die Schulter des Mädchens und versuchte sie wachzurütteln. Wie ein Vortex erfasste es ihre Hand und ein schwarzes Nichts zog das Mädchen in sich hinunter. Bevor es sie erwischte ließ sie los. Hiroo schreckte auf. Schweiß rann ihre Stirn hinunter. Sie atmete schwer und schaute sich irritiert um. "Yume?", flüsterte sie fast atemlos. Sie schaute geradewegs auf ein Bett, das schräg gegenüber zur Fensterseite stand. Es war nicht ihr Raum, es war auch nicht ihre eiserne Zelle. Sie lag in einem Bett. Schräg gegenüber dem von diesem Mädchen, dass sie gerade fast wie in einer zweiten Wirklichkeit wahrgenommen hatte. Es war zu nah an dem was vor 2 Jahren passierte. Sie war aber zu entkräftigt um sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Trotzdem stand sie auf und ging das Mädchen aus dem Augenwinkel beobachtend in Richtung des Fensters aus dem fahl das Mondlicht einfiel.

Es war im UnEsCo-Ausbildungslager nicht üblich, einen festen Schlaf zu haben. Devy war in dieser Hinsicht keine Ausnahme von der Regel. Nachdem sie erwachte, realisierte sie binnen Sekunden, dass ihre neue Zimmernachbarin nicht mehr im Bett lag, sondern inzwischen am Fenster stand. Erleichtert atmete das Mädchen auf. Das wenige, was man ihr über diese Hiroo Kurosawa erzählt hatte, gab Devy keinen Grund, ihr gegenüber besonders vertrauensselig zu sein - im Gegenteil, es war sowohl vor ihrer Agressivität als auch davor gewarnt worden, dass sie bei erster Gelegenheit auf- und davon sein konnte. Beide Szenarien sollten unterbunden werden, und Devy hatte die Verantwortung, die ihr in der Sache zukam, gleich ernstgenommen. Nicht nur, weil sie ungern ihr neues Zimmer in Flammen aufgehen gesehen hätte. Obwohl Devy auf eine Mitbewohnerin hätte verzichten können - zumal auf eine solche - sie nahm es als eine Ehre wahr, dass man ihr eine solch "schwerwiegende" Aufgabe zugeteilt hatte. Wenn der Moment kam, hatte sie sich gesagt, würde sie das neue Mädchen in die Knie zwingen und den Alarmknopf aktivieren, um Hilfe zu holen.

In dem Moment, in dem Devy einen kurzen Blick nach rechts warf, wo neben der Tür der rote Knopf in der Wand eingelassen war, wandte sich Hiroo ihr zu. Ihr Bett knartschte, als Devy den Kopf herumriss und sich völlig ins Sitzen aufrichtete. So starrten die beiden Mädchen, sich jeweils der vollkommenen Aufmerksamkeit der anderen Person bewusst. Devy konnte nicht lesen, was in dem Neuzugang und hinter ihren dunklen, blitzenden Augen vorging. Sie hatte sie bisher nur schlafend gesehen. Schlafend erschien Hiroo nicht wie eine Gefahr. Devys erster selbst gemachter Eindruck von ihr war eigentlich ein positiver gewesen. Das Mädchen war nicht besonders groß, mit feinen, asiatischen Gesichtszügen ausgestattet und sonst unter einer hellblauen Bettdecke vergraben gewesen. Gut, ihr Haar war zu einem Teil türkis gefärbt, was Devy wie eine red flag vorkam, und nur der Ansatz und die ausdrucksstarken Augenbrauen verrieten den ursprünglich pechschwarzen Haarton. Die Spitzen hatten in dem Mondschein einen geradezu leuchtenden Schimmer. Aber Hiroo sah doch ganz menschlich und, gerade im Schlaf, zugänglich aus. Devy kannte ein paar Asiaten aus ihrer bisherigen Zeit auf dem Campus, aus ihrer ehemaligen Pflegefamilie und sogar noch von ganz früher. Ein Malaye hatte eine Zeit lang auf der Ranch ihres Vaters gearbeitet, den Namen hatte Devy längst vergessen, aber ein positiver Eindruck von ihm war geblieben. Mit dieser Beweisführung im Hinterkopf entschloss sie sich, auch der wachen Hiroo Kurosawa eine Chance zu geben. "Guten Morgen." begann Devy. "Sach mal, sprichst du nur im Schlaf chinesisch - oder auch so?"

"Good morning. Kinda early if you ask me..." Hiroo war für einen Moment irritiert. Sie schaute dem Mädchen in die Augen. In ihrer naiven Art meinte sie es wohl nur gut mit ihr. Sie setzte sich an das Ende des Bettes und blickte weiter hinaus. Weiße Wolken zogen über das Mondlicht hinweg. "Uhm... did I talk in my sleep?", stammelte sie aus ihrem trockenen Mund.

Das klang tatsächlich entgegenkommend. Devy entspannte sich. "Ja, aber ich hab eh nichts verstanden. Fremdsprachen waren noch nie so mein Ding- und, glaub mir, fast jeder redet oder wandert im Schlaf. Jedenfalls, wenn man von meinen ehemaligen Mitbewohnerinnen auf alle Menschen schließen kann." Sie grunzte ein wenig über diesen spontanen Kommentar, den sie persönlich für sehr pfiffig hielt. Von Hiroo kam keine Reaktion, bis auf ein kaum wahrnehmbares Lächeln, das kurz über ihr Gesicht huschte. Devys Grinsen schwand. Vielleicht war sie ja die Merkwürdige von beiden, und nun hielt die neue Zimmergenossin sie gleich für albern und komisch. Wenn sie wirklich so charakterstark und respekteinflößend war und über einzigartige Kräfte verfügte, hatte Devy keine Lust, es sich mit ihr zu verscherzen - egal, wie harmlos sie gerade wirkte. "Also... es ist halb 4 und wir müssen um 6 auf, ich jedenfalls.", bemerkte Devy deswegen sehr viel zurückhaltender. "Sergeant Hofmann hält echt nicht viel von Zuspätkommern. Von daher..." Mit diesen Worten zog Devy sich die Decke wieder bis ans Kinn und wartete - ohne das zeigen zu wollen - mit Hochspannung auf eine Antwort.

Hiroo stand auf. "I'm not even sure what to expect of tomorrow." Ein langer Seufzer verließ ihren immer noch geschwächten Körper, während sie nach unten blickte. Sie trank aus einer vollen Flasche, die auf der Fensterbank stand. Ihr lechzender Durst ebbte mit jedem Schluck Wasser ab. "Ahh..." Sie raffte sich auf und ging zurück zu ihrem neuen Bett, das jetzt doch irgendwie sehr viel einladender aussah. "Oyasumi nasai. Sleep well, I mean..." Sie zog sich die hellblaue Decke bis an das Kinn, als würde sie dabei Devy immitieren. Bei dem Gedanken schaute sie peinlich berührt hinüber. 'Why do I even care, baka...' Bevor sie weitere Gedanken aufstellen konnte, fiel sie bereits in einen tiefen Schlaf.

 

Episode 3

Es war ein kalter Herbstmorgen. Jays Atem schwebte sichtbar durch die klare Luft. Doch ihm würde bald warm werden - dafür würde Colonel Falk schon sorgen. Der alte Militärveteran war dafür bekannt, den Esper viel abzuverlangen und Jay hatte das in den letzten Wochen am eigenen Leib erfahren. In Gedanken versuchte er sich schonmal damit zu trösten, dass nach dieser Einheit der beste Teil der Woche anfing und er "die Mistgabel", wie Falk manchmal heimlich genannt wurde, zwei komplette Tage lang weder hören noch sehen musste. Entsprechend mental eingestellt betrat er die große Trainingshalle.

Ich wache zitternd auf. Die Bettdecke fühlt sich feucht an, ich habe geschwitzt, wie in den letzten Nächten. Die Bilder wollen nicht aus meinem Kopf, die Schreie der Menschen die ich gesehen habe auch nicht. Ich versuche tief zu atmen, so wie es mir mein Trainer gesagt hat. "Wenn du wieder Angst hast, dann denk an etwas sehr fröhliches.", hat er gesagt und ich muss fast lachen. Er kann sich nicht mal im Entferntesten vorstellen, was ich hier jeden Tag sehe, was ich mitbekomme, was ich alles weiß. Was ich nicht weiß ist, wie ich etwas positives in meinem Kopf erschaffen soll. Also denke ich an das einzige, was mir noch nie schlimm vor kam: das Frühstück.

Seit ich bei der UnEsCo bin, geht es mir besser. Ich weiß, dass viele das nicht verstehen, aber ich bin 10 Jahre alt, meine Eltern wissen nicht mehr wer ich bin und ich weiß morgens manchmal nicht, wie mein Körper gerade aussieht. Ich sehe nichts und doch sehe ich alles, oft bin ich so verwirrt, dass ich mich nur in die Ecke setzen kann und mir die Ohren zu halte. Ich hasse Wasser. Ich hasse, was es mit mir tut und ich hasse den Schmerz, den ich spüre, wenn ich etwas sehe.

Die Schreie der Bergleute waren seit langem am Schlimmsten. Ich sehe sie noch jetzt vor mir. Die verdrehten Körper, die Toten, die Lebenden, die Leidenden.

Vorsichtig tastend stehe ich auf und taste meinen Körper ab. Bin ich gealtert? Erleichtert stelle ich fest, dass ich keine Brüste habe, Himmel, die Dinger sind schwer. Das bedeutet aber auch, dass ich jünger bin. Langsam steigt Erleichterung in mir auf. Ich schätze, dass ich wirklich 10 bin. Oder elf. Vielleicht 12. Auf jeden Fall so alt, wie ich eigentlich wirklich bin.

Ich stehe auf. Die Tür geht auf und jemand betritt mein Zimmer. "Guten Morgen!", sagt Hannah, sie ist meine Betreuerin die mich zum Frühstück bringt. Jeden Morgen. Sie hilft mir beim Anziehen und beschreibt mir, was ich anhabe, sie erklärt mir die Farbzusammensetzungen und sie nimmt mich an die Hand, bevor wir zum essen gehen.

Die Kinder sind laut, sie reden wild durcheinander, ich esse schweigend. Ich will nicht reden, ich weiß eh nicht wovon sie reden, kann ihre Welt kaum verstehen, die sie nur über ihre Augen wahrnehmen. Allein über meine Füße spüre ich mehr von dem Raum, der sie umgibt als sie selbst. Ich weiß, sie haben alle besondere Fähigkeiten, aber ich habe in den Visionen schon so viele von ihnen sterben sehen, dass ich mich nicht mehr mit ihnen anfreunden will. So etwas kann und will ich nicht mehr.

Nach dem Essen werde ich angestupst, ich weiß wer es ist, ohne dass ich mich dazu zwingen muss. Es ist dieser junge Mann, Jamey, mit dieser komischen Schreibweise, die ich nicht nachvollziehen kann. Welche Eltern machen das denn?

"Komm, mein Schatz.", sagt er. Das sagt er jeden Tag. Und jeden Tag denke ich mir, dass ich einen Namen habe. Aber ich hab seinen Tod noch nicht gesehen und er ist der einzige, der mir hilft, so, dass ich mich danach nicht schmerzerfüllt und furchtbar fühle. Ich sehe, dass er mir heute etwas geben will, aber ich weiß nicht was, er kann seine Gedanken besser für sich behalten als andere Menschen und deswegen ist er interessant für mich.

 

Wir besuchen mein Einzeltraining. Ich weiß, dass der Colonel heute zu sieht und dass ich es heute schaffen muss ein Portal zu öffnen. Gezielt. Mit Bild. Jamey weiß, dass ich aufgeregt bin, er weiß, dass die UnEsCo von mir verlangt effektiver zu werden.

Gestern habe ich ihnen etwas aufgemalt, eine verwirrende Vision mit Zahlen, Buchstaben und einer Steinplatte. Ich weiß, dass wir dazu noch etwas tun müssen, aber Colonel Falk weiß es noch nicht, also schweige ich. Er will, dass ich die Portale in den Griff bekomme.

 

In unserem Raum angekommen hockt sich Jamey vor mich und gibt mir einen Knochen. Es ist Rind. Und als ich es betaste, spüre ich die Klinge. Es ist vorn geschärft und mein Finger blutet. "Vorsicht.", flüstert Jamey und weiter sagt er leise: "Schneide es damit auf. Konzentriere dich."

Ich weiß nicht, wie er das meint, aber ich setze mich auf den Boden und denke an Jay. An das Surren, das ihn manchmal umgibt. Ich weiß, dass der Strom, der ihn umgibt mir hilft, die Portale zu öffnen und manchmal, wenn ich in seiner Nähe sind, wird das Bedürfnis ihn zu berühren riesig, denn tief in meinem Inneren weiß ich, dass er durch das Ableiten des Stromes mit mir gemeinsam diese Portale öffnen kann. Ich muss nur das entsprechende Bild weitergeben.

Da er aber nicht da ist und der Raum keine elektrischen Quellen hat, stelle ich es mir vor. Das Surren, den leisen Schmerz der einen durchzuckt, wenn man einen Stromschlag bekommt und fast automatisch schneide ich mit dem Rinderknochen in der Luft.

Ich höre Vögel zwitschern und das Rauschen der Blätter von Bäumen im Wind.

"Wo ist das?", fragt die dunkle Stimme der Mistgabel hart und ich höre seine Schritte. "Ist das real?", fragt er weiter und greift fest nach meinem Arm. Der Schmerz verändert die Welt im Portal. Ich höre die Bergarbeiter schreien, ich sehe sie fast wieder.

Von hinten stößt mein Betreuer, mein Trainer, den Colonel an der Schulter an. Er lässt mich los, ich denke wieder an den Nachmittag mit meinen Eltern und das Portal ändert wieder die Gegebenheit. Es strengt mich an, ich spüre Tränen über mein Gesicht laufen und habe Angst, dass sie wieder eine Vision auslösen. Aber nichts geschieht. Nichts.

Erleichterung macht sich breit, Colonel Falk hatte vielleicht doch Recht...

In den letzten Wochen hat er mich im Einzeltraining so oft in den Pool geschubst, dass ich am laufenden Band gealtert bin und Visionen hatte. Ich habe mich in der Zeit so oft übergeben, dass ich kaum noch aufrecht stehen konnte. Er nannte es Abhärtung. Als ich damals Jamey davon erzählte, ist dieser fast ausgerastet. Er passt auf mich auf. Ich weiß es, seit er Colonel Falk damit konfrontierte.

 

Ein Portal habe ich schon oft mit Jamey geöffnet. Aber nur mit dem Stromgedanken und dem Rindermesser... Das war ein Erfolg.

"Das sind Welten in ihrem Kopf. Das ist ihr Erlebtes, Realitäten, die nie existieren werden."

Colonel Falk zieht die Luft heftig durch die Nase ein. "Wir brauchen die Wirklichkeit. Keine erdachten Gegebenheiten." Er tritt näher an Jamey heran und sie flüstern. Ich will nicht zuhören und strecke meine Hand durch das Portal. Ich spüre den Wind und die sanfte Brise, die damals in Schweden herrschte, als ich meine Eltern verlassen musste. Ich ziehe die Hand zurück, ich spüre, dass ich mich nicht mehr genug konzentriert habe, es schließt sich. Und nachdem mein erster Trainer auf diese Art und Weise einen Arm verlor, kann ich das nicht mehr riskieren. Es summt laut, dann ist das Portal zu.

Colonel Falk greift nach meiner Schulter und hält mich so fest, dass ich weiß, dass es einen blauen Fleck geben wird. "Wie hast du das ausgelöst?"

"Strom. Messer.", sage ich einsilbig und ich kann sein schmutziges Lächeln fast riechen.

 

Jamey flüstert mir noch ins Ohr, dass er später noch zu mir ins Zimmer kommt. Er hat Angst, dass spüre ich. Er denkt, der Colonel wird mir weh tun. Ich bin mir sicher, dass das passieren wird.

 

Colonel Falk und ich, betreten die Trainingshalle. Es surrt. Ich spüre Jay, bevor er weiß das wir da sind. Und plötzlich weiß ich, was der Colonel vor hat und vor Angst wird mir eiskalt.

 

Das Trainingscenter war noch leer. Jays Schritte hallten einsam von den Wänden wider. Anscheinend war Falk gerade noch anderswo beschäftigt. Na egal. Dann würde Jay die Zeit eben zum Üben nutzen. Er begab sich in Position und begann, die Kurzform zu durchlaufen, die er seit einer Woche beherrschte. Jordan hatte seit dem Erhalt seines neuen Trainingsplanes Tai Ji in das Kampftraining aufgenommen. Jay hatte schnell gelernt, brauchte aber nach wie vor viel Übung. Deshalb nutzte er viel freie Zeit, um sich an die neuen Bewegungsmuster zu gewöhnen. Es war gar nicht so einfach, gleichzeitig den eigenen Körper zu kontrollieren und dabei die Umgebung im Blick zu behalten. Aber seine Vorerfahrung half ihm dabei. Jordan hatte nicht gelogen, was die entspannende Wirkung anging. Er hatte auch gesagt, dass Tai Ji Jay bei seinem Esper-Training helfen könnte. Damit wollten sie demnächst beginnen, wenn Jay die Kurzform sicher beherrschte. Im Gegensatz zur Mistgabel war Jordan geduldig und verständnisvoll. Er wusste genau, wann er Jay fordern musste und wann dieser mehr Zeit brauchte.

Aufs Stichwort. Kaum hatte Jay die zwei Minuten Form zu Ende gebracht, bemerkte er aus dem Augenwinkel, wie Falk in Begleitung eines Mädchens die Halle betrat. Jay brauchte einen Moment, bis er begriff, wer die Kleine war. Sie hatte sich sehr verändert. Aber das war ja laut ihrer eigenen Aussage ständig der Fall. Gleich geblieben waren die helle Farbe von Haut und Haaren und die blinden, dennoch durchdringenden Augen, sowie das seltsame Symbol auf ihrer Stirn. Ihren Namen hatte er allerdings vergessen. Was sollte das hier? Nicht dass Jay überrascht gewesen wäre, dass der Colonel ihn über eine Änderung des Trainingsplans nicht informiert hätte. Dazu schätzte dieser seine "Schüler" viel zu gering. Trotzdem verstand Jay nicht so ganz, was vorging. Er versuchte einen neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen.

"Hey, vision girl. Long time no see" Die Phrase rutschte ihm heraus, bevor er über die genaue Bedeutung des Wortlauts nachdenken konnte. "Was machst du denn hier?" Dann wandte er sich an den Übungsleiter: "Colonel." Keine überflüssigen Fragen. Keine unnötige Provokation. Falk würde ohnehin gleich zur Sache kommen.

Der Colonel nickte Jay zu, dass spürte ich an der Art, wie sich sein Körper bewegte. "Hallo", flüsterte ich und trotzdem hallte meine Stimme von den hohen Wänden der Trainingshalle wieder. Ich hatte einen unglaublichen Horror vor dieser Halle - irgendwo, weiter hinten, ich schätzte etwa 500m, befand sich der Pool.

Der Colonel drückte mich in die Richtung, in der Jay stand.

"Ich habe eine ganz wunderbare Entdeckung gemacht.", begann die Mistgabel zu erzählen. "Dieses Mädchen kann, wie du weißt, Portale in die Zukunft und Vergangenheit öffnen. Mit Hilfe von Strom ist es ihr möglich Realitäten zu öffnen, leider momentan nur solche, die sie selbst erschafft."

Ein böses Lächeln umspielte seine Lippen. Ich hatte es in meinen Visionen so oft gesehen, dass ich mich kaum anstrengen musste um diesen Ausdruck wieder vor Augen zu haben. Die Augen des Colonel waren zu Schlitzen verengt, sein rechter Mundwinkel zuckte. Er begann von links nach rechts zu laufen, während er erzählte. 

"Nun ist es mir möglich euer Training zusammen zu legen. Die Kleine braucht Strom um diese Portale zu öffnen, ich vermute, frisch von der Quelle und nicht nur den Gedanken daran. Zusammen würdet ihr Unglaubliches schaffen."

So, wie er es vor Jay sagte, klang es beinahe gut, was er da formulierte. Aber ich wusste wie es enden würde, also versuchte ich vorsichtig zu erklären, dass es mir nicht möglich sein würde eine Wirklichkeit im eigentlichen Sinne zu öffnen. Diese Zeitportale beruhten seit Generationen auf den Vorstellungen der jeweiligen Seherin. Würde ich mir eine rosa Ponywelt vorstellen, könnte ich sie öffnen. Würde ich an einen Swimmingpool denken, könnte ich ihn öffnen. Ich könnte Menschen darum erschaffen, nur durch meine Gedanken. Aber zu keinem Zeitpunkt würde diese Welt hinter dem Portal real sein. "Ich kann...", setzte ich an, aber weiter kam ich nicht. Der umher wandernde Colonel schnappte nach meinem Kiefer und hielt ihn fest. "Du. Sollst. Mich. Nicht. Unterbrechen.", zischte er scharf. Er spuckte mir beim Sprechen ins Gesicht und eine Sekunde lang bekam ich Einblick in sein Leben: 

Ich sah die UnEsCo, Diskussionen die er um die Ausbildung der Esper führte, wie wir anreisten, wie er uns herausforderte und dann, wie er begriff, dass er mit der Möglichkeit aktiv in die Vergangenheit zu reisen, den Lauf der Dinge und die Ausbildung der Esper ändern könnte. Ich spürte seine heiße, wilde Freude über die Erkenntnis, dass Jay und ich ihm diesen Wunsch vermeintlich erfüllen könnten und seine Vision der Zukunft von sich selbst. Und plötzlich, als ob er realisiert hätte, dass wir nicht alleine waren, ließ er mich wieder los, räusperte sich und richtete sich wieder auf. Die Vision war vorbei, ich tastete mich hektisch ab. Nicht gealtert. Gut. 

"Hast du etwas gesehen?", fragte der Colonel mit bedrohlicher Stimme. "Was hast du gesehen?" 

"Nichts.", brachte ich zitternd heraus. "Hab nur meinen Zimmerschlüssel gesucht." Wie zum Beweis zog ich ihn aus der Bauchtasche meines Pullovers. Der Colonel wusste, dass ich log, aber er konnte nichts dagegen tun. Hier war noch jemand, jemand, der ihm gefährlich werden konnte und so war ich dankbar, dass Jay hier war. 

Nun, dachte ich bei mir, während ich den Schmerz im Kiefer verdrängte, was er nicht weiß...

Wenige Schritte neben mir stand Jay. Seine Körperhaltung verriet, dass er nicht verstand, was von ihm erwartet wurde.

"Ich erwarte von euch, dass ihr zusammen wirkt. Das ihr lernt eure Kräfte aufeinander abzustimmen um zusammen zu dem bestmöglichen Ergebnis zu kommen."

"Wie?", fragte ich ruhig. Ich wusste, dass es nicht schmerzfrei zu gehen würde, wenn Jay tatsächlich Strom frei geben sollte. Würde es einen Rückstoß geben? Würde Jay sehen, was ich sehe? Wären wir für die Zeit aneinander gekoppelt? Warum sollte ich eigentlich mitmachen?

"Das könnt ihr euch überlegen, aber prinzipiell denke ich, dass du als Stromableiter dienen solltest.", sagte der Colonel harsch. Seine Atmung war ruhig, sein Körper angespannt. Er hatte Mittel und Wege uns dazu zu bewegen das zu tun was er wollte. Aber ich war die Letzte die sagen würde, dass sein Plan zum scheitern verurteilt war. Nicht nur er hatte Ideen. Nicht nur der Colonel verfügte über Macht. Und wenn ich es geschickt anstellen würde, dann könnte Jay vielleicht tatsächlich sehen, wie ich die Sache angehen wollte.

Ich setzte mich auf den Boden, weil ich mich so entspannen konnte, es kostete Kraft ein Portal zu öffnen. Aus dem Pullover zog ich das knöcherne Messer und hielt es kurz in die Richtung, in der ich Jay vermutete. "Bist du bereit für etwas Magie?" Ich grinste.

Ich war gespannt. Ob er mit machte. Ob ich ihm die Hand geben sollte. Ob er ähnliche Schmerzen haben würde. Ob er die Bilder sehen würde, die ich sehen kann. Und viel wichtiger: Wenn es uns gelingen würde das zu tun, wären wir mit dem Feuer von Hiroo unbesiegbar.

Vorsichtig hielt ich Jay die Hand hin und wartete ab was geschehen würde, während der Colonel zwischen den Zähnen hervor stieß: "Ich warte."

 

Jays Augen hatten sich während Falks Vortrag leicht geweitet. Nein, er hatte nicht gewusst, dass die Kleine dazu in der Lage war. Doch da der Übungsleiter das gerade erklärt hatte, war eine Klarstellung der Verhältnisse nicht nötig. Jay nickte also, auch wenn er innerlich erst einmal verarbeiten musste, was er da hörte. Was das ganze mit Strom zu tun hatte, war ihm genauso schleierhaft. Was erwartete dieser Mann von ihm? 

Das Mädchen tat das, was Jay tunlichst vermieden hatte. Sie sagte etwas, bevor der Colonel mit seinen Ausführungen fertig war und bekam sofort die Quittung. Jay verachtete die Mistgabel für dieses übertrieben harsche Verhalten - gerade in Gegenwart eines kleinen Mädchens. Doch für den Moment musste er sich zusammenreißen. Die Kleine wurde nervöser und wenn Falk richtig lag, hatte sie gerade eine Vision gehabt. Sie stritt es zwar ab, doch wer wusste schon, was in ihrem Kopf vorging. Die Mistgabel schien unzufriedener zu werden und das gefiel Jay überhaupt nicht. Je schlechter der Colonel gelaunt war, desto mehr hatten die Auszubildenden darunter zu leiden. Aber er schien sich wieder zu fangen und fuhr fort. Die Kräfte koppeln? Jay war verwirrt und in ihm regte sich Widerstand. Mal davon abgesehen, dass er in seinem Esper-Training noch nicht gerade weit war, konnte er sich nicht vorstellen, wie er und das Mädchen seine Kräfte koppeln sollten. Sollte er sie etwa unter Strom setzen? Das konnte und wollte er unter keinen Umständen tun. Da war es ihm dann auch egal, wie gereizt die Mistgabel war.

"Colonel. Sie haben meine Akten gelesen. Ich bin noch nicht so weit, dass ich Strom sicher kontrollieren kann. Davon abgesehen weiß ich nicht, was Sie von mir wollen." Jays Stimme war fest. Er wusste, dass es eigentlich unklug war, Falk Widerworte zu geben. Das hinderte ihn aber nicht daran. Es gab eine Grenze. Außerdem regte sich eine Erinnerung in Jay, die er unbedingt unterbinden musste, bevor sie an die Oberfläche gelangen konnte. Dementsprechend weigerte er sich, die Hand seiner Übungspartnerin zu ergreifen. Er blieb, wo er war, den Körper mittlerweile kaum merklich angespannt, und erwiderte den Blick des Colonels.

"Hier und an dieser Stelle geht es nicht um Sicherheit. Es geht um Training. Vorkehrungen sind getroffen. Wenn Sie sich nicht fordern, dann wird nichts geschehen.", presste der Colonel hervor, langsam sichtlich ungehalten, weil sich zwei Esper weigerten das zu tun, was er verlangte.
Ich musste ein Lächeln unterdrücken. Guter Mann, dieser Jay. Ich ließ meine Hand sinken, legte sie auf den Boden und tat, was ich in meinem Einzeltraining gelernt hatte: Ich öffnete ein schwarzes Loch. Diese Art von Portal war für mich am einfachsten zu öffnen. Es erforderte kaum Konzentration, kaum Kraft und ich brauchte auch das Messer dafür nicht. Selbes hatte ich vor meine Beine gelegt.
"Schau.", sagte ich mehr zu Jay, als zum Colonel. "Das will er mit Leben füllen und..."
Der Colonel unterbrach mich. "Ich? Die UnEsCo erwartet Fortschrittlichkeit von den Esper, die hier Leben. Es ist in eurer Verantwortung für künftige Aufträge helfen zu können. Ihr könntet Verletzte schneller abtransportieren, Menschen retten!" Der Colonel redete sich in Rage, während mein Portal langsam wabernd durch die Halle zog. Ich bemühte mich nicht, es an einer Stelle zu halten, der Colonel wusste schließlich nicht, dass ich das konnte.
"Ich kann sowas tun...", flüsterte ich und dachte angestrengt an ein Picknick mit meinen Großeltern. Das Bild erschien in dem Portal und ich schnappte nach Luft. Zu. Anstrengend.
Mit einem schnappenden Geräusch schloss sich das Portal. Offensichtlich so nah an Colonel Falk, dass dieser zusammenfuhr und leise fluchte.
"Findet einen Weg.", sagte er ruhig. Ich war mir nicht sicher, was für ein Unterton in seiner Stimme war, aber ich wusste, dass etwas getan werden musste.
"Die Akten sind an dieser Stelle egal.", sagte der Colonel erneut.
"Nein.", entfuhr es mir. "Nein."
Der Mistgabel juckte es in den Fingern. Aber vor Jay würde er mir nichts tun, das wusste ich.
"Mädchen", sagte er mit einer so schrecklich süffisanten Stimme, dass mir ganz schlecht wurde. Er beugte sich nah vor mein Gesicht. "Ich bestimme, was hier passiert. Dies ist zu eurem Training, eurer Weiterbildung. Der Kontrolle eurer Kräfte. Das willst du doch, oder nicht?"
Ich wusste das er auf meinen ersten Trainer anspielte.
Langsam stand ich auf. "Was sollen wir tun? Ich verstehe nicht."
Der Colonel schnaubte. "Findet einen Weg zu tun, was ich verlangt habe." 

Der Colonel ließ nicht locker. Eigentlich hätte man das auch nicht erwarten brauchen. Er hatte seine Position stets durch Härte und Unnachgiebigkeit untermauert. Plötzlich öffnete sich ein schwarzes Loch mitten im Boden vor der Kleinen. Jay zuckte kurz zusammen und musterte das Gebilde mit Erstaunen und leichtem Unbehagen. Er nahm ihre Worte kaum wahr. Während Falk eine ziemlich ungehaltene "Moralpredigt" hielt, starrte Jay dem wirbelnden Strom von Energie hinterher, der sich durch die Halle bewegte. Er bekam eine Gänsehaut. Was ist das?, fragte er sich. Und wie gut hat sich das unter Kontrolle? Sie schien sich ihrer Sache sicher zu sein. Für einen kurzen Moment veränderte sich das Portal. Dann schloss es sich abrupt. War es das, was der Colonel erreichen wollte? Jay schaute das Mädchen an und erkannte die Anstrengung in ihrem Gesicht, kurz bevor sich ihr Ausdruck wieder normalisierte. Er schauderte. Das war zuviel. Die Mistgabel hatte schon immer viel verlangt. Doch diesmal verlangte er zu viel.

"Nein! Nein!" Das Echo klang in Jays Kopf nach und veränderte sich. Es war die Stimme eines Kindes, aber nicht die eines Mädchens. Die Erinnerungen kamen und ergriffen langsam Besitz von Jay. Er versuchte, in der Gegenwart zu bleiben, doch Falks Worte trugen nicht dazu bei. Wut stieg in Jay hoch. Für eine halbe Sekunde flackerten Worte in ihm auf: Lass sie den Fluss hinunterfließen. Doch er konnte es nicht. Er hatte es nicht mehr unter Kontrolle. Vor seinem geistigen Auge sah er einen anderen Mann.

"Du wirst mir gehorchen! Tu, was ich dir sage!"

"Nein! Nein, nein nein!", schrie das Kind zurück.

Die Lampen, die die Halle erleuchteten, wurden heller. Jays Anspannung übertrug sich auf die Spannung in den Stromleitungen. Er ballte die Hand zur Faust und kämpfte gegen die Gefühle in ihm an. Wie so oft waren die aber stärker.

"Lassen Sie das Mädchen in Ruhe!", brach es aus ihm heraus.

Oh nein, dachte ich, als ich den Strom flackern spürte, aber den Colonel schien es zu erheitern.

"Genau.", sagte dieser fast erleichtert und machte irgendeine Bewegung. "Und jetzt umleiten, auf das Mädchen lenken. Benutzt, was euch gegeben ist!"

Seine Augen loderten, seine Körpersprache war immer noch hart, aber seine Stimme ließ vernehmen, dass er sich seiner Sache sicher war. Genau das wollte er.

Alles was ich hoffte war, dass Jay seine Kraft unter Kontrolle hatte, dass er nicht ausversehen den Colonel Angriff, das würde nicht gut gehen. Ich stand auf, nahm allen Mut zusammen und berührte Jay vorsichtig.

"Beruhige dich.", flüsterte ich. "Das ist es nicht Wert."

Mit einer halben Drehung wandte ich mich wieder in Richtung Colonel. "Hören Sie einfach auf."

Die Mistgabel lachte höhnisch und ich schwöre, dass war der erste Moment in dem ich überlegte, wie ich ihm die Gliedmaßen einzeln abtrennen konnte. Es gab einen Punkt, eine Grenze. Er konnte nicht verstehen, wie so etwas war: Esper zu sein. Fähigkeiten zu haben, die niemand anders hatte, die Menschen, die diese nicht kannten einem beizubringen versuchten. Dies war der erste Moment, in dem ich das erste Mal gezielt beschützen wollte und ich spürte das Kribbeln in meinen Fingern, bevor ich über den Boden robbte, das Messer aufhob und mit einer Bewegung und einem monotonen Summen im Kopf ein Portal öffnete. Der Strom um mich herum wurde lauter in meinem Kopf und die Bergarbeiter in der Szenerie schrien sich die Seele aus dem Leib. "Hören Sie auf.", flüsterte ich nun. Es war das bedrohlichste, was ich je empfunden hatte. Pure Wut über das, was er von uns wollte.

"Es gibt keinen Grund dafür, ihr tut genau das was ich wollte.", erklärte der Colonel ein wenig zu erfreut. 

Es war tatsächlich sein Plan gewesen. Der Colonel wollte, dass Jay sie unter Strom setzte. Dass und die Tatsache, dass er Jay absichtlich provozierte, um seine Kräfte zu wecken, machte ihn nur noch wütender. Wie aus weiter Ferne spürte er eine sanfte Berührung. Doch Jay hörte das Mädchen neben ihm nicht. Seine Aufmerksamkeit war auf den Colonel gerichtet. In ihm tobte ein kleines Inferno. Da Jay aber zumindest gerade so noch seinen Körper kontrollieren konnte, suchte sich die Energie in ihm einen anderen Weg. Die Beleuchtung strahlte mittlerweile so hell, dass alles um ihn herum in Licht und Schatten verschwamm. Das würden die Lampen gleich nicht mehr durchhalten. Doch Jay jagte die Elektronen weiter durch die Leitungen. Er war gefangen im Fluss seiner eigenen Kraft.

Die Lampen brannten durch, Sekundenbruchteile nacheinander. Jede einzelne von ihnen warf Jay kurz ein wenig mehr aus der Bahn und unterbrach seine Energieschübe. Seine Beine zitterten und gaben nach. Reflexartig ließ er seine Arme vorschnellen, um sich auf ihnen abzustützen. Jay schloss die Augen. Einen kurzen Augenblick lang hatte er keine Orientierung. Dann hob er den Kopf und sah das Mädchen. Vor ihr pulsierte ein Portal. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Jay drückte sich vom Boden ab und kam wieder auf die Beine. "Nicht!", rief er ihr zu.

Jay's Aufforderung irritierte mich und der Colonel war sichtlich verwirrt. Er wandte sich um, sah das Portal hinter sich und trat einen Schritt weg.

"Das. Muss. Bestraft. Werden.", presste ich zwischen den Zähnen hervor, es war anstrengend das Portal offen zu halten und dabei nicht an die Grenzen seiner Kraft zu gehen. Ich bewegte es mit einem leisen Wimmern in Richtung des Colonels, der daraufhin einen Taser aus der Tasche zog und zwei große Schritte auf mich zu machte. Ich Dummerchen, das hätte ich wissen müssen.

"Hör damit auf. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du damit durch kommst?", brummte er wütend.

Ich schnaufte, wollte nicht aufgeben, sackte auf die Knie, bekam Jay's Bein zu fassen. "Hilf mir!", rief ich. Ich wollte meiner Stimme etwas Eindringliches anhaften lassen, aber alles was ich schaffte, war ein müder Klang. Das Portal schwächte mich. "Wir können das hier schnell regeln. Es würde nicht lange dauern..."

Neben meinem Kopf knisterte der Strom des Tasers und ich verlor mein Bewusstsein. 

Jay erkannte mit Entsetzen, was in dem Mädchen vorging. Und er bemerkte nur zu gut, dass Falk zum selben Schluss gekommen war, wie er. Das machte die Lage prekär. Jay konnte nicht zulassen, dass die Kleine das tat, was sie vorhatte. Gleichzeitig wollte er sie vor dem nun ziemlich wütenden Colonel beschützen. Ihr Hilferuf klang schwächlich, als würde ihr das Aufrechterhalten des Portals sie jede weitere Sekunde Unmengen an Energie aus dem Körper ziehen. Was es vermutlich auch tat. "Lass es sein", wollte er ihr sagen. Doch er kam nicht dazu. Jay registrierte, dass Falk einen Taser gezogen hatte und entschied sich blitzschnell für etwas anderes. Er entwand sich dem ohnehin lockeren Griff des Mädchens und schob seinen Körper schützend vor sie. Im nächsten Augenblick jagte Schmerz durch seinen Körper. Seine Muskeln verkrampften. Hinter sich hörte er Gwendolyn zusammensacken.

 

Episode 4

Jacksons Büro hatten Jay und Gwendolyn bereits drei Mal von Innen gesehen - das erste Mal irgendwann zu Beginn ihres Aufenthalts auf dem Campus, einmal genau vor dem Einsatz und dann noch ein paar Tage danach, für die "Nachbesprechung". Jedes Mal war das Warten vor der Tür verbunden gewesen mit Fragen und Unsicherheiten darüber, was der angeblich so wichtige Termin wohl bedeuten mochte. Die bisherigen Erfahrungen legten den Rekruten nicht nah, große Antworten zu erwarten.

Nun hatte das Warten ein Ende und die Tür öffnete sich auf eine gleichmäßige, mechanische Art, die langsam den Blick auf den Raum freigab. Er wirkte immer noch genauso altmodisch wie nichtssagend: Regale mit Aktenordnern, die man sonst so gut wie nur als Icons kannte, abschließbare Schubladenschränke mit mattweißen Fronten und genau auf der anderen Raumseite ein massiver Schreibtisch. Dort saß, gefühlt einen halben Kilometer entfernt, Colonel Jackson, und würdigte den Eintretenden keinerlei Aufmerksamkeit. In ihren Computerscreen vertieft, der ihre Sicht keinesfalls verdeckt hätte, wartete die Abteilungsleiterin - für welche Abteilung auch immer - geduldig, bis ihre Gäste auf den ergonomisch geformten, aber harten Stühlen vor dem Schreibtisch platzgenommen hatten.

Begrüßungen - völlige Zeitverschwendung, nachdem Jackson den Beginn des Gesprächs noch einige Sekunden herausgezögert hatte. "Es gab vor einer Woche einen Vorfall. Ich meine die Situation mit Colonel Falk." Letztere Spezifizierung wäre angesichts der Tatsache, dass dieser "Vorfall" Gwen mehrere Tage auf die Krankenstation verfrachtet hatte, wohl nicht notwendig gewesen. Dennoch - zum Teil schien die Schwere der "Situation" doch durchgedrungen zu sein. Und dazu - wie hatte Jackson überhaupt von diesem Ereignis erfahren? Bevor Jay oder Gwen sich der Ereigniskette eigentlich klar werden konnten, ließ die Einsatzleiterin eine weitere Bombe fallen: "Nun ja, und generell gibt es da ein Anliegen, zu dem ich gerne eure Meinung hören wollte. Irgendwelche Ideen, wie sich eure Trainingssituation in eine  förderlichere Richtung verändern ließe? Bezüglich Effizienz und ...Wohlbefinden."

Es war still im Flur. Gwendolyn - Jay erinnerte sich mittlerweile wieder an ihren Namen - saß schon im Wartebereich. "Hey", begrüßte er sie. "Alles klar bei dir?" 

"Hi." , sagte ich ruhig. "Es geht schon. Und... Du?" Verlegen baumelte ich mit den Beinen, der Stuhl war viel zu groß für mich. "Ich wollte mich noch bedanken ... Für... Naja, du weißt schon." Vorsichtig hob ich den Kopf, tastete nach seiner Hand, fand sie, drückte sie kurz und ließ sie direkt wieder los. 

Die Geste irritierte Jay ein wenig. Er war es nicht so sehr gewohnt, Nähe zuzulassen. Doch er ließ es geschehen. Irgendwie war es auch ... nett. Und sie war noch ein Kind. Egal, wie sehr ihre bisherigen Erfahrungen sie geprägt haben mochten - sie war trotzdem ein Kind. "Ach was." Er winkte ab. Dann fiel ihm auf, dass sie die Geste gar nicht bemerken konnte. "Ich hab alles nur schlimmer gemacht", antwortete er. "Aber ich bin ok. Dich hat's härter erwischt."

Ich grinste ein bisschen. "Ach, ich bin öfter schon umgefallen. Mach dir nichts daraus. Ich finde es super cool, dass du dich dazwischen gestellt hast, das ist wirklich der Wahnsinn! Du bist richtig mutig!" Ein klein wenig begann ich ihm zu vertrauen. Wie sollte ich ihm nur begreiflich machen, was ich alles über seine Zukunft gesehen hatte?

"Weißt du, wenn jemand sich wissentlich zwischen einen Taser und ein Mädchen stellt, dann ist das eine große Leistung. Besonders, wenn dieser jemand dabei solche Schmerzen haben würde, wie du." Ich lächelte und legte den Kopf auf die Seite. "Es war gut, dass du da warst. Ohne dich, hätte ich das nicht geschafft." 

"Äh, ok." Sie nahm das scheinbar sehr leichtherzig. Oder sie tat so. "Naja, was heißt mutig. Ich hab unter Falk schon einiges ausgehalten, das macht's dann auch nicht mehr aus. Wenn das Ding dich getroffen hätte, wär's aber richtig gefährlich geworden. Wo wir schon vom Beschützen reden - du hattest doch mal 'nen Bodyguard. Dieser Exit." Der Name war ungewöhnlich genug, um ihn sich gemerkt zu haben.  

"Ein Bodyguard... Nun, also Exit hab ich lang nicht mehr gesehen. Klar, beim letzten Einsatz hat er auf mich aufgepasst und der hatte voll die coolen Fähigkeiten, aber seitdem... Naja..." Ich seufzte ein bisschen.

"Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was mit ihm ist. Ich hatte ihm mal ne Nachricht zukommen lassen, aber ich hab keine Antwort erhalten. Und dann musste ich auch echt viel trainieren. Weißt du, ich werde regelmäßig befragt was ich so gesehen habe und dann muss ich gezielt Dinge sehen können..."

Wenn es einer Verstand, dann Jay. Hier wurde gearbeitet und das war nicht immer lustig. "Ach und in die Schule muss ich auch noch gehen!"

Ich grinste. "Willst du mir erklären, wie Bruchrechnung geht? So zur Abwechslung was Normales?"

Dann wurde ich ernst. "Was denkst du... Wegen der Mistgabel? Glaubst du, er wird bestraft?" 

"Oh, achso. Naja, wer weiß, was mit dem ist. Ist ja jetzt auch egal." Jay konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen, als sich die Kleine über ihr Pensum beschwerte. "Schule - na da ist ja wenigstens etwas an mir vorbeigegangen. Sorry, aber mit Mathe kann ich dir nicht weiterhelfen. Ich kann dir nur beibringen, wie man ein Motorrad repariert oder ein Lagerfeuer anmacht." Jay gab sich einen Ruck und erwiderte ihr Grinsen. Dann seufzte er. "Aber ich hatte in letzter Zeit auch wenig Ruhe. Ich frag mich, ob's normal für uns überhaupt geben wird. Vermutlich nicht." Gwens Lächeln verschwand langsam. Sie nahm den ernsteren Ton auf. "Ich hab keine Ahnung, du." Jay zuckte mit den Achseln. "Mal sehen, was der Boss sagt, hm?"

Jay betrat Jacksons Büro mit gemischten Gefühlen. Die letzte Besprechung hier war mehr als nur unangenehm gewesen und wie die heutige Sitzung verlaufen würde, war noch nicht abzusehen. Er hatte Jordan so beherrscht und ehrlich wie möglich von der "Sache" erzählt. Aber die Frage war, auf wen Jackson eher hören würde. Die Mistgabel war nicht sonderlich beliebt - auch bei seinen Kollegen nur mehr oder minder. Allerdings genoss er trotzdem gewissen Respekt. Und manche Leute fürchteten ihn einfach zu sehr, um seine Aussagen in Frage zu stellen. Zu letzteren gehörte Jackson definitiv nicht. Doch ob sie der Chaostruppe ihrer letzten Mission glauben würde? Jay seufzte. Dann durchschritt er den Raum und ließ sich auf einem der Stühle fallen. Dann wartete er darauf, dass Jackson loslegen würde. Innerlich machte er sich auf eine harsche Ansprache gefasst. Die entpuppte sich jedoch als überraschend zuvorkommend. Jay war kurz ein wenig perplex.

"Colonel, ich ... äh", begann er. "Ich weiß, Sie hören sowas nicht gerne. Aber ich denke, wir brauchen mehr Zeit. Ich kann nicht für Gwen hier sprechen, aber mindestens ich habe mich in dieser speziellen .. ah-äh .. Sitzung überfordert gefühlt. Natürlich wollen Sie Fortschritte sehen und das verstehe ich voll und ganz. Aber unter diesen Umständen kann ich die nicht bringen. Bei meinem restlichen Plan sehe ich keine Probleme."

Ich wurde unruhig. Colonel Jackson war eine kalte Frau, sie wusste, dass das was vorgefallen war falsch war.

Woher konnte sie das wissen? Ich hatte Jamey davon erzählt, der mich auf der Krankenstation besucht hatte. Auch wenn ich ihm hauptsächlich stolz erzählte, dass ich Portale geöffnet und geschlossen und sogar bewegt hatte, schien er sich hauptsächlich daran zu stören, dass die Mistgabel "unsachgemäß gehandelt" habe. Was auch immer das bedeutete. Er versuchte seine Wut an meinem Krankenbett zu verbergen, aber wenn man nichts sehen kann, nimmt man einiges anderes wahr, was einen umgibt. Und mein Trainer war sauer. Er hatte es der Jackson sicher gesagt.

Jay war zum Glück anfangs genauso verwirrt wie ich. Sie war zu nett. So redete sie eigentlich nicht mit uns.

Um unser Wohlbefinden war sie besorgt? Interessant.

Jay brachte die Sache auf den Punkt. Zu schnell wurden zu heftige Fortschritte verlangt. Also nickte ich eifrig.

"Er hat Recht.", meinte ich. "Diese... Übung... Das... War zu viel." Mir liefen Schauder über den Rücken, die Erinnerung an die Anstrengung und den Schmerz waren noch sehr greifbar. "Die Visionen hab ich beinahe im Griff, Wasser muss sie nicht mehr auslösen, aber kann. Aber bitte, bitte lassen sie mich nicht mehr ins Wasser schubsen, ich mag das nicht mehr!"

Bevor ich wusste wie mir geschah, stiegen mir Tränen in die Augen. Ich blinzelte sie hektisch weg und hoffte, dass sie niemand gesehen hatte.

"Ich schwöre, dass ich mich anstrenge, ich kann das kontrollieren, aber nicht im Pool. Bitte nicht mehr in den Pool."

Mensch, Gwen, sagte ich zu mir selbst. Jammer nicht so.

"Und", gab ich zu bedenken und bemühte mich um Sicherheit. "Und ich will nicht mehr so schnell die Portale öffnen. Es kostet Kraft. Dann wird mir schwindlig und schlecht und ich weiß noch nicht, wie ich das alles schaffen soll. Aber in seiner Nähe ist es leichter!", rief ich und deutete in die Richtung, in der ich Jay vermutete. Ich berührte irgendwas neben mir. Vielleicht seine Nase oder seine Wange. "Tschuldigung.", flüsterte ich in seine Richtung.

"Und für unser Wohlbefinden können Sie einiges Tun! Lassen Sie uns ab und an ausruhen. Nur ein bisschen."

Ich atmete tief, hatte mich etwas in Rage geredet und klammerte mich am Stuhl fest, halb auf meinen Daumen sitzend, in dem Versuch irgendwie Schutz vor den Blicken von Colonel Jackson zu finden, die ich nicht sehen konnte.

Sein zögerlicher Vorstoß bekam von Gwendolyn einen regelrechten Boost. Es war, als wäre ein Damm gebrochen und die kleine Seherin sprudelte mit all ihren Problemen heraus. Vielleicht hatte sie erst nicht vorgehabt, sich so zu öffnen, überlegte Jay. Aber es war passiert. Und im Prinzip war das gut. Denn Jackson war zwar oft hart, aber dennoch eine kluge und erfahrene Frau. Sie würde verstehen, dass man jemanden nicht so behandeln sollte, wie es bei Gwen vorgefallen war. Vor allem kein junges Mädchen. Die Kleine tat ihm leid. Jackson hatte seine Geschichte berücksichtigt und ihm Jordan als Trainer zugeteilt. Dann würde sie auch Gwendolyn berücksichtigen.

Dass Gwen ihn erwähnte, war ihm etwas unangenehm. Sie stupste ihn am Arm - vermutlich aus Versehen. Das war schon irgendwie wieder niedlich. Er wusste nicht so richtig, was er dazu sagen sollte, also sagte er erstmal gar nichts. Jay hatte eh noch nicht ganz verstanden, was das alles gerade mit ihm zu tun haben sollte. Wenn es nur um Strom ging, brauchte man am allerwenigsten jemanden, der den eben nicht kontrollieren konnte. Da war jede Maschine besser. Gut, vielleicht kein Taser, erinnerte sich Jay an seine schmerzhafte Begegnung mit der Waffe. Aber Gwen schien sich auf ihn festgelegt zu haben, warum auch immer. Aber die Frage war sowieso eine ganz andere: Was würde Jackson zu all dem sagen?

Mit der Geduld eines Engels oder einer Engelsstatur (Don't blink ;)) hatte Jackson den immer emotionaler werdenden Antworten der Rekruten gelauscht. Ihre angespannte Ausdruckslosigkeit, die vielleicht zwei- oder drei Mal durch ein plötzliches Zucken der Gesichtszüge unterbrochen wurde, ließ es zu, Überraschung, so etwas wie Besorgnis, vielleicht sogar Betroffenheit - aber auch leichte Genervtheit hineinzuinterpretieren. Als Jackson jetzt aufatmete und den Mund öffnete, schien es jedoch so, als habe sie sich ihre erste Reaktion schon im Voraus zurechtgelegt. "Das...lässt sich sicher einrichten, ich werde das an die zuständigen Personen weitergeben." Was dann mit wenig Abstand folgte, klang schon viel spontaner - und vielleicht sogar so, als ob die Information der sagenumwobenen ehemaligen Unesco-Agentin entglitte. "Ich meine, zumal der nächste Einsatz erst in etwa einem Jahr stattfindet."

Kurz zuckte ich zusammen. "In einem Jahr?", fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach. Das... Wieso sagte sie nichts zu den Gegebenheiten? Wieso positionierte sie sich nicht? Ich rutschte nach vorn, an die Stuhlkante.

"Was passiert mit Colonel Falk?" Ich wollte ihm unter keinen Umständen wieder begegnen müssen. "Wie wird damit verfahren, was er uns angetan hat?" 

Jacksons Antwort fiel ziemlich kurz aus. In dem Wenigen, was sie sagte, lagen aber einige interessante Informationen. Es war also langfristig ein fester Einsatz geplant? Das klang seltsam, aber was sollte er schon groß dazu sagen?

"Also dagegen hab ich nichts. Aber wissen Sie schon, in welcher Besetzung wir ranmüssen? Hört sich ja danach an, als ob Gwen und ich schon gesetzt wär'n." Und wer weiß, wer noch, dachte Jay im Stillen.

Hinter ihrem kurzen Zögern schien ein Versuch Jacksons zu stecken, ihre Worte besser abzuwägen. Vielleicht bereute sie, die letzte Information so freimütig herausgegeben zu haben - gerade auch, weil sich natürlicherweise Fragen aus ihr entspinnen mussten. Das Gesicht der Einsatzleiterin gab nun doch ein wenig von ihrer inneren Genervtheit wieder, und sie hielt den neutral-freundlichen Tonfall nur merklich mühsam. "Basierend auf einer von Gwendolyns Visionen ist es notwendig, gewisse Prognosen darüber machen, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, sollten die Ereignisse nicht auf eine andere Art rechtzeitig verhindert werden können." formulierte Jackson zunächst gekonnt diplomatisch, bevor sie in einem Schlenker etwas näher an eine tatsächliche Antwort herankam. "Rekrut Martens, schon einmal von Wahrscheinlichkeitsrechnung gehört? Nicht, dass es einen Unterschied machen würde. Fakt ist nur, wenn...wenn es um die Zukunft geht, muss man manchmal jede Möglichkeit, wenn auch noch so unwahrscheinlich, so behandeln, als wäre sie bereits festgelegt-100%. Jedenfalls besteht mein Job darin, auf alles vorbereitet zu sein. Deinen darfst du darin sehen, mit 100% davon auszugehen, dass du irgendwann um diese Zeit in einem Jahr in einem Flugzeug sitzt und neue Anweisungen bekommst. Dasselbe gilt für Gwendolyn. Eventuell auch für andere. Gesetzt ist allerdings nichts und niemand." Jackson war langsam in Fahrt gekommen. Die Energie, mit der sie das sagte, schien sie jedoch nicht gerade erst aufgebaut zu haben, und die Ideen nicht zum ersten Mal in Worte geformt. Jetzt wandte sich Colonel Jackson, wobei sie ein paar Gänge zurückschaltete, an Gwendoyln. "Du musst ja am besten wissen, dass nur das sicher ist, was in der Vergangenheit liegt. Und dazu gehört Falks Zeit an dieser Instutition. Mehr muss ...dazu nicht gesagt werden." schloss sie, als wolle sie sich selbst davon abhalten, das Thema auszuweiten. Mit den Worten "Irgendwelche weiteren Wünsche." war sie inhaltlich und im Tonfall wieder am Anfang des Gesprächs zurückgekehrt.

"Ehrlich gesagt...", flüsterte ich halb. "Doch. Schon. Da muss noch was gesagt werden. Niemand hat sich entschuldigt. Niemand.

Okay, die Krankenschwester hat gesagt es tut ihr Leid... Aber sie ist darin nicht involviert." Es war gefährlich sowas zu sagen. "Verstehen Sie, ich mach das echt gern. Wenn ich damit helfen kann, ist das super", meinte ich, während ich mir gegen den Kopf tippte, der meine Visionen ja ausführte. "Aber wir wurden schlecht behandelt. Und niemand hat sich entschuldigt." 

Jackson hatte es mal wieder drauf, Dinge so zu formulieren, dass man nicht hinter alles kam, was sie sagte. Jay unterließ ein Augenrollen, und dass obwohl sie ihn danach auch noch mit seinem Nachnamen ansprach. Jay hatte dieses Hin und Her mit Titeln, Anreden und Nachnamen nie gemocht, aber immer mitgespielt. Für ihn bedeutete das alles nichts. "Ich werde mich bereithalten", sagte er nur. Eigentlich hätte er gerne mehr Informationen bekommen. Doch Jackson wollte die offensichtlicherweise noch nicht mit ihnen teilen. Es erleichterte ihn aber, zu hören, dass Falk weg vom Fenster war. Für einen kurzen Moment verspürte Jay so etwas wie Glücksseligkeit bei der Feststellung, dass dieser Mann ihn nicht mehr durch irgendwelche Trainings quälen würde. Hoffentlich war der Ersatz nicht genauso mies. Immerhin würde es der Kleinen besser gehen. So sah es zumindest stark aus. Gerade wollte er anmerken, dass aus seiner Sicht nichts mehr zu klären war, als Gwendolyn sich einschaltete. Jay biss sich auf die Lippe. Dann musterte er Jackson. 

Schon kurz nach ihrer letzten Frage hatte Jackson sich zurückgelehnt, um sich wieder dem Bildschirm zuzuwenden. Während Gwen noch sprach, aktivierte sie die Tastaturfunktion der Sensorplatte in ihrem Schreibtisch und begann, etwas einzutippen; erst nach einigen Sekunden Stille, die sich sehr lange anfühlten, machte sie einen Kommentar: "Es freut mich, zu sehen, dass die Grundschulabteilung auf diesem Campus so viel Wert auf Erziehung zu Höflichkeit legt." Jacksons Augen blieben dabei fast die ganze Zeit am Screen hängen, bis auf einen kurzen Seitenblick auf Gwen zum Ende hin. Sie zögerte, war allerdings noch nicht fertig. "Es gibt natürlich Anlässe, zu denen man von dieser Organisation Blumen und Karten erwarten kann, nachdem einem Mitglied oder einem Rekruten...etwas zugestoßen ist." Die Einsatzleiterin wartete nicht, bis der letzte Satz einsank, bevor sie den Gedanken zuendebrachte. "Ich dagegen halte mehr davon, solchen Umständen vorzubeugen."

 

Raureif

Sie war wieder zu spät. Die Nacht war zu kurz. Beide Duschen waren besetzt. Hiroo blickte auf die Klamotten die vor dem Duschvorhang in der Ablage hingen. Ihre innere Uhr sagte ihr kurz vor Acht. Sie konnte leicht erkennen von welchen beiden Warmduschern die Unterwäsche stammte. 'Not these two again.' Hiroo atmete tief durch. Sie wollte es höflich probieren. "Uhm, how long till you're finished, Vela?" Vela war diejenige die mit Abstand am längsten benötigte. Leider verwickelte sie dabei gerne ihre Zimmernachbarin in ein reines Klatschgewitter. "What do you think? I have no time for you. Sorry." Die Stimme war nicht provozierend unhöflich. Es war die Antwort eines Mädchens, das es gewohnt war so mit ihresgleichen zu sprechen. Es war die übliche Antwort die sie auch den anderen Mädchen im unteren Stock zuwider gab. Unter diesen hatte sie gemeinsam mit ihrer Zimmergenossin den größten Raum. Sie gehörte nicht zu den älteren Mädchen die das Privileg hatten, im oberen Stockwerk ihre Zimmer neben dem der Hausleitung zu beziehen. Doch das ließ sie sich nicht anmerken. Hiroo hatte keine Zeit, dennoch konnte sie die Morgendusche heute nicht überspringen. An Essen konnte sie garnicht denken. Im Gang hörte sie bereits das Traben der anderen Mädchen. Um Punkt 8 erwartete Sgt. Hofmann die Mädchen am Trainingsplatz im Waldpark. Hiroo ging in Richtung der Toiletten, stieß eine der Türen auf und stieg auf eine der Toilettensitze. Sie legte ihre Hand an das heiße metallene Rohr, das an der Decke entlang Wasser in Richtung der Duschen transportierte. Hiroo stellte sich vor, wie in einem Moment ein eisiger Strom die beiden Zimmergenossinen unter der Dusche erwischen würde während sie knapp auf Zehenspitzen gestreckt das Wasserohr erreichte. In diesem Moment erfasste sie die Augen von Devy, die gerade an der Tür vorbeiging.

Seit Hiroo in Wohngruppe 11 aufgetaucht war, lebte es sich hier definitiv anders. Vielleicht, dachte Devy, hängt es damit zusammen, dass sie unberechenbar ist. Undurchschaubar in mancherlei Hinsicht. Jedenfalls konnte Devy sich nicht so recht erklären, wieso ihre Zimmernachbarin ihren heutigen Morgen damit begann, auf einer Klobrille zu balancieren und sich an einem Rohr festzuhalten. Wenn das eine Fitnessübung sein sollte, kam sie Devy doch sehr ineffektiv vor. Im Falle, dass Hiroo versuchte, eine Reparatur durchzuführen, erschien die Vorgehensweise doch eher kontraproduktiv. "Vorsicht, du brichst noch was. dir zum Beispiel." murmelte Devy daher nach ein paar Momenten, in denen sie schlaftrunken und verwirrt in die Kabine gestarrt hatte.

Hiroo war unkonzentriert, sie hatte versucht eine Art ihrer Absorption gezielt einzusetzen, die sie selten in diesem Maße nutzte. Ein eisiger Nebel zog sich über das Wasserohr. Im gleichen Moment vernahm sie die Stimme von Devy welche urplötzlich in das Badezimmer kam und irgendwas unverständliches von sich gab. Ihre Zehenspitzen verloren den Halt unter den Socken und sie rutschte nach hinten weg.

Das war einer dieser Momente, in denen Devy die Schwerkraft von ganzem Herzen hasste. Bei den ersten Anzeichen, dass Hiroo tatsächlich den Klositz unter den Füßen verlieren würde, hatte sie dieses Kitzeln in den Fingern verspürt. Gleichzeitig hatten sich auch zahlreiche schlechte Erfahrungen aus dem Training, die bis in Devys Unterbewusstsein vorgedrungen waren, gemeldet und sich in ihrem Körpergedächtnis widergespiegelt. Das Mädchen verkrampfte sich. Intuitiv wusste sie, dass sie es nicht schaffen konnte, Hiroos Sturz mithilfe ihrer Esper aufzuhalten oder abzubremsen - das Schwerenetz, das sie runterziehen würde, zu einem Fangnetz umzugestalten. Und das war, was Devy bereits in den Millisekunden, bevor der Fall wirklich unabänderlich wurde, so sehr frustrierte und davon abhielt, andere Schritte einzuleiten. Als sie die zwei Sprünge nach vorne, die notwendig gewesen wären, um Hiroo im letzten Moment einen Halt zu geben, endlich hinter sich gebracht hatte, saß Devys Zimmernachbarin schon auf den Fliesen und die Kabinenwand vibrierte noch von der Kollision mit ihrem harten Schädel."Es tut mir so Leid! So Leid, wirklich!" japste Devy atemlos.

Hiroos Welt stand für einen Moment lang Kopf. Ihr Hinterkopf schlug auf die hölzerne Trennwand auf und federte diese leicht an, während ihr Oberkörper auf dem Boden aufschlug. Ihre Füße baumelten hilflos über die Klobrille nach oben hinweg. Ein Schrei hallte durch die Duschen, ein weiterer folgte. Das Echo folgte den beiden aus den Duschräumen stürmenden Mädchen, die einen kurzen aufgebrachten Blick in Richtung von Devy warfen und hinaus auf den Flur liefen. "I'll get you for this, Devy..." Hiroo nahm von dem nicht sonderlich viel mit, die Stimme von Devy klang noch in ihrem Kopf und sie versuchte zu verstehen was Devy gerade gesagt hatte. "What? ... Did you...", begann Hiroo. Sie hielt kurz inne. Sie hatte ein paar Gerüchte über Devys Esper gehört, diese aber noch nie live erlebt. "Forget... it ... it was my fault...", verließ ihre leicht zitternde Lippen, während sie versuchte aufzustehen. Ihr Hintern rutschte über die halb verdrehte Klobrille und ihr Kopf stieß erneut an die doch sehr stabile Holzwand. Sie atmete durch und presste einem Finger an die Aufschlagswunde. Nach einer Kostprobe durchzuckte der leichte Geschmack von Blut ihre Geschmacksknospen.

Es gab etwas, was Devy noch mehr hasste als die Erdanziehungskraft: Das war, zwischen zwei Punkten der Gravitation festzuhängen und praktisch hin- und hergerissen zu werden– dieses Gefühl überkam Devy sofort, als sie die Zusammenhänge des Morgens durchblickt hatte. Das war alles andere als sofort. Zuerst traf Velas anschuldigende Drohung Devy ganz direkt und sie fuhr herum. Wäre das Mädchen so schlagfertig, wie sie es sich wünschte, hätte sie der anderen WG- Bewohnerin einen feurigen Spruch hinterhergerufen, im Sinne von „Was ist jetzt wieder dein Problem.“, aber dafür war sie nicht einmal selbstbewusst genug. Stattdessen durchsuchte Devy im Schnelldurchgang ihr Hirn nach Dingen, die sie tatsächlich falsch gemacht haben könnte – eine Liste solcher fiel ihr immer ein – während sie sich um die letzte Situation kümmerte, in der sie sich verantwortlich fühlte. „Ej, du kannst nichts dafür, wir schaffen das schon.“ Meinte Devy im großschwesterlichen Ton, während sie Hiroo aufhalf. Die schien nicht mal zuzuhören. Vielleicht war sie wirklich ernsthaft verletzt – und das war erstmal das Einzige, woran Devy denken konnte. Andere würden ihr schon noch helfen, in diesem Fall eins und eins zusammenzuzählen.

Hiroo rannte um ihr Leben. Wenn es nach Sgt. Hofmann ginge, stände vermutlich eben dieses aktuell zur Debatte. Wenn man sie so über die Wege im Waldpark laufen gesehen hätte, wäre der Anblick durchaus befremdlich gewesen. Ein getoastetes Brot in den Mund stopfend rannte sie, während sie auf umständliche Weise und im vollen Lauf ihre Trainingsklamotten anzog. Der halb herunterhängende Verband am Kopf verschob sich weiter, während sie ihre Trainingsjacke über den Kopf stülpte. Der Wald war in Raueis gehüllt und der Himmel war der Morgensonne trotzend in grauen Wolken zugezogen. Ihre Augen erfassten gerade aus dem Kragen blickend den um die Ecke gehenden Weg. Dieser führte geradewegs zum Trainingsplatz in südlicher Richtung. In diesem Augenblick wurde es schwarz. Hiroo roch den aufsteigenden Geruch von Blut. Sie war gegen etwas oder jemanden gerannt. Sie schlug die Augen auf. Ihr Gesicht schaute nach oben in den Himmel hinein, aus dem gerade vereinzelt Schneeflocken herunterrieselten. Ihr Kopf schaute halb aus ihrer Trainingjacke heraus während es sich in ihrem Kopf drehte.

Die Sonnenstrahlen stahlen sich so langsam durch die kahlen Baumkronen. Ihr Licht ließ den Raureif in den Ästen glitzern. Es war still. Das genoss Jay so sehr. Zwar war die Luft schneidend kalt, doch um diese Uhrzeit war kaum jemand im Park unterwegs. Gerade jetzt lag Frieden über dem Ort. Deshalb liebte Jay diese Morgenspaziergänge. Immer, wenn er morgens nicht zur Fahrtheorie musste, nutzte er die Zeit, um sich so das zu geben, was der Wildnis von North Dakota am nähsten kam. Er vermisste es tatsächlich. Die Unesco gab sich zwar alle Mühe, ihn zu beschäftigen. Doch so sehr ihn das Training forderte und auf eine gewisse Art weiterbrachte; so sehr er die Abende in der Werkstatt genoss - es ließ ihn trotzdem kalt. Nicht dass er bei Bart das Gefühl gehabt hatte, in irgendetwas wirklich aufzugehen. Doch dort hatte er einfach nur sein können, ohne dass etwas von ihm verlangt wurde. Vielleicht war es auch dieses Gefühl, dass Jay vermisste. Er schloss die Augen und blieb für einen Moment still stehen. Dann hörte er Schritte. Jay rührte sich nicht. Er wollte warten, bis der Unbekannte an ihm vorbeigezogen war. Blöd nur, dass dieser jemand in ihn hineinrannte.

Jay stieß einen Laut der Überraschung aus, gepaart mit einem Stöhnen. Er konnte sich nur mit größter Mühe noch auf den Beinen halten, denn der Läufer hatte ein ziemliches Tempo draufgehabt. "Wa-?", entfuhr es dem jungen Esper. Er unterbrach sich aber mitten im Wort, als er sah, wer da vor ihm auf dem Weg saß. Hiroos rotes Gesicht stand in direktem Kontrast zu ihren türkisfarbenen Strähnen, um die sich ein ziemlich lockerer, leicht blutiger Verband zog. Sie schaute ein wenig desorientiert zu Jay auf. Der dachte gleichzeitig mehrere Dinge. Dazu gehörten unter anderem "Verdammt", "Passiert mir das gerade wirklich?", dass er die kleine Asiatin seit ihren letzten Begegnungen kein Stück mehr mochte und dass er vergessen hatte, wie sie hieß. Was er sagte, war:

"Alter, wer hat dich denn verprügelt?"

Ihre Wahrnehmung machte einen Reboot. Die Frage von Jay stand in der kalten Luft. Hiroo hätte an der Stelle so weiterliegen können. "Not my kinda day...", flüsterte sie sich in den Kragen. Eine einzelne eisige Schneeflocke landete auf ihrer roten heißen Nase. Der Tag stand ihr bis hier, während das halbgekaute Toast hochkam. Sie zuckte zusammen und drehte sich hustend um. Sie schluckte es wieder mit einem dezenten Blutgeschmack herunter. Warmes Blut floß ihre Nase herunter. "Wh-what?..." Sie versuchte sich aufzuraffen.

Sie sah ziemlich mitgenommen aus. Was auch immer ihr passiert war - es musste sie im wahrsten Sinne des Wortes erschüttert haben. Jay verfolgte zugegebenermaßen ein bisschen beunruhigt, wie sie ihr .. Frühstück? .. hochwürgte. Das und die Tatsache, dass sie scheinbar verletzter war, als er angenommen hatte, brachten ihn zu dem Entschluss, ihr zu helfen. Also kniete er sich neben die kleine Frau. "Vergiss es", murmelte er und sagte dann etwas deutlicher: "Kannst du aufstehen? Du siehst furchtbar aus. Ich bring dich zur Krankenstation."

Sie hatte sich heute schon einmal so helfen lassen. Diese peinliche Episode dürfte nicht zur Regel werden. Dennoch ließ sie sich von Jay aufhelfen und atmete erstmal tief durch. Sie zog ihre Trainingsjacke zurecht, "I guess I gotta thank you..." ein kalter Windzug erfasste die beiden. "...for standing around like that." Ein leichtes Grinsen hebte sich über ihr blutverschmiertes Gesicht. "This way at least I'm not running late for the drill..." Ihr eigener Wortwitz amüsierte sie weniger als sie zum Anschein gab. Ihr war es tatsächlich lieber in diesem Zustand nicht vor Sgt. Hofmann und den anderen Mädchen zu erscheinen. Sie begann sich das Blut unter ihrer Nase mit einem Zipfel ihrer Trainingsjacke abzuwischen.

"Ich glaub, die Kopfverletzung ist schlimmer als angenommen. Du faselst wirres Zeug", war Jays Kommentar zu Hiroos Bemerkungen. Er durchwühlte seine Taschen, um festzustellen, dass er kein Taschentuch dabei hatte. Bestens. Wie schnell sie gehen konnten, würde sich auch noch zeigen. Jay tat es Hiroo gleich und atmete tief durch. "Na komm schon", forderte er sie auf.

Umständlich versuchte sie den lockeren Verband zuzuziehen, bis Jay ihr auch hierbei zur Hilfe kam. Sie nickte ihm stumm einem Dank ähnelnd zu. Der abwertenden Bemerkung zuwider trottete Hiroo neben dem vorrangehenden Jay entlang. Ihr steckten die Worte im Hals fest, während sie den Weg zur Krankenstation aufsuchten.

Es war wieder Ruhe eingekehrt. Nur die Schritte der zwei jungen Menschen durchbrachen die Stille des Wintermorgens. Seit sie losgegangen waren, hatte Hiroo gar nichts mehr gesagt. Jay warf ihr ab und an einen prüfenden Blick zu. So liefen sie schweigend nebeneinander her. Irgendwann erreichten sie die Ausläufer der momentan silbrig-grauen Grünanlagen.

Ihr ging es wirklich nicht gut, aber sie versuchte es sich nicht anmerken zu lassen. In der Stille kam ihr die erste Begegnung mit diesem Jungen neben ihr in den Sinn. Wegen was hatten sie sich damals in den Haaren gelegen? Während sie so mit ihren Gedanken abschweifte, hoffte sie jeden Augenblick das Gebäude der Krankenstation zu erblicken.

Wenn man eines von Hiroo sagen konnte, dann, dass sie hartnäckig war. Sie kämpfte sich weiter voran, als würde sie notfalls auch noch bis Alaska laufen. Dieses Bedürfnis, die eigenen Probleme möglichst ohne Hilfe von anderen zu bestehen, war mal etwas, dass Jay verstand und mit ihr teilte. Er sagte kein Wort und achtete darauf, dass sie alles tun konnte, was noch ging. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten die zwei durchgefrorenen Wanderer die Krankenstation. Jay begleitete Hiroo hinein. "Soll ich irgendwem ausrichten, dass du hier bist?", wollte er wissen

"I think I can handle Sgt. Hofmann. I don't want you to get involved with her unnecessarily. But maybe... you could wait a moment with me." Ihr Blick schweifte durch den Eingangsbereich, in dem sie ein junges Mädchen von ihrer Schätzung nach 10 Jahren erblickte. Ihre Füße baumelten knapp über dem Boden. Sie schien auf etwas zu warten, während Hiroo den Raum betrat.

"Sowas Blödes schon wieder, ganz ehrlich.", murrte ich leise in mich hinein und ließ die Beine baumeln. Da hatte ich endlich ein bisschen Orientierungstraining in der Natur verhandelt, damit es mich nicht mehr überforderte in der freien Natur zu sein und mich nur kniend orientieren zu können. Jamey (der mir neulich erzählt hatte, dass er eigentlich James hieß, was seinen blöden Spitznamen endlich erklärte) war von der Idee sehr angetan mich in einen Wald zu stellen, weil die Angst vor der Orientierungslosigkeit in einem Wald in Schweden begonnen hatte. Was er und ich nicht wussten war: meine Reaktion darauf würde nicht friedlich verlaufen.

Jamey nahm mich an der Hand und führte mich in den Wald. Es war eiskalt. Und ehe ich mich versah, ließ er mich los, rannte irgendwo hin und meine Kräfte verselbstständigten sich: ich spürte eine ziehen in meinem Kopf, sah Blut und Steine, sah einen Finger und gleichzeitig sackte ich auf die Knie, spürte das elektrische Summen, fühlte den Luftzug aus dem Portal und die Angst in meinen Knochen - dann hörte ich ihn Schreien.

"NEIN! STOP! HIER BIN ICH, HÖR AUF!!!"

Und ich sah in einer kleinen Vision, wie Jamey auf dem Boden des Waldes lag und sich seine Hand hielt. Ihm fehlte ein Finger, ich hatte ihn abgetrennt... Ich robbte vorsichtig zu ihm, tastete durch nasse Pfützen von Blut und schnaufte, als ich ihn endlich ertastete. Er sprach bereits in sein Funkgerät, dass er abgeholt werden musste und ich weinte wie verrückt. "Alles gut.", sagte er und drückte meine Hand fest. Aber ich hörte in seiner Stimme, dass nicht alles gut war.

Und nun saß ich hier, in der Krankenstation und wartete angespannt, dass man mir etwas sagen konnte oder mich jemand abholte oder ob ich bestraft würde. Da spürte ich einen Luftzug und vernahm einen leicht metallischen Geruch von Blut, zusammen mit einem Parfum das mir sehr bekannt vorkam. Eine Erinnerung blitzte in meinem Kopf auf: dieses Mädchen vom letzten Einsatz...

"Hallo?", fragte ich vorsichtig in die Richtung in der ich jemanden vermutete. 

"Klar, wie du willst", meinte Jay. Es war gerade auch nicht sonderlich voll im Wartebereich. Dementsprechend dauerte es nicht lange, bis er Gwendolyn bemerkte, die ziemlich geknickt auf einem der Stühle hockte. Hiroo schien das Mädchen ebenfalls bemerkt zu haben. Und auch Gwen drehte sich zu ihnen um.

"Hey Gwendolyn", antwortete Jay der Kleinen auf ihr zögerliches Hallo. "Was ist dir denn passiert, dass du hierher musstest?"

Ich grinste breit, als ich Jays Stimme hörte. "Jay!", rief ich. Und dann räusperte ich mich verlegen. "Ich... Ähm... Hab... Also ich hab... Meinem Trainer den Finger abgehackt..."

Hatte sie das richtig verstanden? Sie war sich unsicher wie sie auf diese Antwort reagieren sollte. "Seems like I hadn't the worst of monday." Sie trat hinter Jay hervor. "Hey, little one..." Sie musterte die beinahe freundschaftliche Beziehung zwischen den beiden so unterschiedlichen Personen neben ihr. Nicht so verwunderlich auf einem so verwunderlichen Campus. "So... uhm, you know each other?", und schaute in die Augen von dem kleinen Mädchen, das etwas ziellos in die Richtung von Jay schaute.

Da war ja doch noch jemand, hatte ich es mir doch gedacht. "Hallo!", sagte ich fröhlich, aber vorsichtig in die Richtung aus der die Stimme kam.

"Sagst du mir deinen Namen noch mal? Ich glaube, wir kennen uns... Haben wir schon mal zusammen gearbeitet? Ich bin Gwendolyn. Aber Gwen reicht völlig aus."

Ich schnupperte. "Du blutest, oder? Himmel, dann solltest du besser schnell zum Arzt!" 

'Gwendolyn? ... Gwen? This strange name rings a bell... somewhere.' In der neuen Wohngruppe hatte sie ein Dutzend neue Namen kennen gelernt. Viele seltsam klingende. Ihr eigener Name war für einige auch ein kleiner Zungenbrecher gewesen. "Name's Hiroo. Nice too meet you, Gwen.", brachte sie schließlich hervor. "Sorry, I don't know you. I mostly work alone. This guy's an exception... and... uhm..." Während sie das vor sich hinnuschelte, fühlte es sich an als würde irgendwas in ihrer Erinnerung fehlen.

Jay war ein wenig überrascht von dem, was er da hörte. Die Überraschung verwandelte sich in Verwirrung, je weiter sich das Gespräch entwickelte.

"Natürlich kennen wir uns. Du müsstest dich eigentlich auch erinnern. Schließlich warst du mit bei dieser Scheißmission. Mittlerweile haben Gwen und ich aber auch gemeinsames Training." Dann wandte er sich an Gwendolyn. "Aber Moment mal, was hast du grade gesagt? Gab's etwa schon wieder Probleme?" Jay merkte, dass er sich leichte Sorgen machte. Das war sonst recht untypisch für ihn. Andererseits war die ganze Situation schon wieder seltsam - wie er mit der mitgenommenen Hiroo im Wartezimmer stand. Und jetzt saß da noch Gwen mit einer neuen, krassen Geschichte. Aber was war schon normal im Camp der Esper?

Hiroo kamen zwei Silhouetten in den Sinn. Sie verblassten wieder. Sie schaute in Richtung des Operationssaal über dem ein rotes Licht brannte. Die Aufnahme war gerade nicht besetzt. 'Seems like this is going to take a moment.' Hiroo setzte sich neben Gwen. Jays Frage ließ auch bei ihr Bilder ihrer Vergangenheit erscheinen. Erwartungsvoll schaute sie auf Gwen.

Ich tastete neben mir nach dem Bein der Person, die sich neben mir liegen gelassen hatte. "Ah, Hiroo.", sagte ich. "Ich hoffe es ist soweit alles okay? Siehst du doppelt? Und ähm... Also ich muss ein bisschen Tasten, du weißt ja, ich seh nichts." Ihr Knie zitterte sogar im Sitzen, also war ich etwas besorgt.

"Oh und Jay, weißt du..." Ich grübelte, wie ich das Problem in Worte fassen sollte. "Ich hatte Angst. Sehr. Viel. Angst. Und dann... Jetzt hab ich Angst, dass das nochmal passiert." 

"Oh Mann, Gwen." Jay ließ sich neben den beiden Mädchen auf einen Stuhl fallen. Er wollte noch irgendwas sagen, machte den Mund auf und atmete aus. Ihm fiel nichts gutes ein. Nach einem Moment des Schweigens entschloss er sich, einfach das Thema zu wechseln. "Habt ihr eigentlich auch nen angepassten Trainingsplan um Weihnachten rum?"

"Yeah. Seems like a bunch of the teachers are absent through the holidays. Unfortunately Sgt. Hofmann tends to confuse us with her family and told us, that she's going to celebrate with... us." Sie verzog ihr Gesicht.  "You guys ever watched Nightmare Before Christmas? Sgt. Hofmann is going after a sequel." Sie schaute Gwen nach dieser Aussage an. 'Stupid, stupid baka...', rang es ihr durch den Kopf. 'What am I asking a blind girl if she's watched some stupid movie...' Sie schaute von sich angenervt nach oben. Sie dachte kurz nach. "Maybe... uhm, I think it could be even something for you Gwen, it has music with a lot of singing, and I could tell you what's happening on the screen." Sie schaute fast wieder erfreut, aber immer noch verlegen zu Gwen herunter.

"Oh, wir können gerne einen Film zusammen schauen! Wirklich! Und wenn jemand erzählt wie alles aussieht, naja, dann macht es noch viel mehr Spaß!", freute ich mich und räusperte mich dann.

"Also Weihnachten... Da... Da hab ich nichts vor. Ich..."

Ich setzte mich gerade hin und atmete tief durch. "Wisst ihr, ich hab Weihnachten Geburtstag. Ich werde zehn! Zehn Jahre alt! Und ich weiß nicht, aber das letzte Mal hab ich das gefeiert, da war ich acht Jahre alt... Und dann hat sich bei der UnEsCo eigentlich kaum einer mehr dafür interessiert. Also wenn ihr mit mir zusammen einen Film zu meinem Geburtstag schauen wollt, dass... ist dann praktisch die erste Geburtstagsfeier seit einer Ewigkeit!"

Ich kniete mich auf meinen Stuhl und stützte mich auf Hiroos Bein ab. "Wir könnten Kuchen essen! Und zusammen spielen! Und wir müssten einen Tag lang mal nicht komisch einen Plan verfolgen und du darfst die Kerzen anzünden! Aber nicht den Kuchen und nicht das Haus, es sei denn, wir kriegen ein Haus zum anzünden. Und Jay, du müsstest nur den Fernseher ertragen, wir müssen kein Licht anmachen! Weil, Hiroo kann das ja! Und... Oh, wollt ihr mit mir Weihnachten, also... Meinen Geburtstag feiern?"

Erwartungsvoll saß ich da und war unfassbar aufgeregt. Wenn man zehn Jahre alt wird, dann gibt es nichts spannenderes als eine eigene Geburtstagsfeier, das ist ja wohl klar. 

Weder Filme noch Weihnachten hatte sich Jay in den letzten Jahren zu Gemüte geführt. Auch sowas wie Geburtstage spielten für ihn keine Rolle mehr. Aber Gwen klang sehr aufgeregt, während sie schon halb in der Planung des Events versank. Es würde sie glücklich machen. Und je mehr Zeit Jay mit der Kleinen verbrachte, desto mehr wünschte er sich, dass sie eine bessere Kindheit haben könnte als er. Trotz dem ganzen Mist, der ihr schon passiert war. Deshalb entschied er sich, Gwen ihren Wunsch zu erfüllen.

"Also, ich hab Weihnachten noch nichts vor. Von daher können wir das machen. Und einen Abend komm ich auch neben nem Fernseher klar."

"Sure, I'll be there. What time will it be?" Hiroo hakte sich in die kleine Gwen ein. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. 'Any reason to stay away from Sgt. Hofmann...' Sie grinste keck in sich hinein. "Heaven sent me a sweet angel."

"Dann werd mal schnell wieder fit, Rudolph. Sonst kannst du unserem süßen kleinen Engel keine Geschenke bringen." Jay sah zu Gwen hinüber. "Ich werde mal meinen Trainer fragen, ob er uns nen Raum besorgen kann, wo wir ungestört feiern können."

Hiroo warf Jay einen genervten Blick zu und rümpfte die Nase. Sie fixierte ihn kurz und schwenkte den Blick nach einem stillen Moment wieder ab. Das rot leuchtende Licht am Operationssaal erlosch. Sie schaute auf die in ihrem Arm liegende Gwen. Sie löste sich etwas in der Absicht aufzustehen. Ihr Knie schwankte etwas, als wäre es eingeschlafen.

"Oh, ihr seid so toll!", rief ich und drückte Hiroo fest, bevor sie aufstehen konnte. "Danke!"

Dann ließ ich sie los. Wahrscheinlich sollte sie wirklich schnell behandelt werden, zumal der Geruch von Eisen nicht schwächer wurde.

"Jay, dann kümmern wir uns um den Raum! Ich will Luftballons! Und Glitzer!" Kurz kicherte ich. "Also auch wenn ich es nicht sehe, aber ich hab da so.. Hihi, eine Vision von." Ich grinste so breit ich konnte und hopste zu Jay um mich auf seinen Schoß zu setzen.

"Du lässt dich gesund machen, Hiroo, ja? Und dann planen wir das zu dritt. Auch die Uhrzeit und so!"

Neben all dem furchtbaren was es auf der Welt gab, neben all dem Elend das ich jeden Tag sehen musste, neben all dem was Jackson und die UnEsCo je von mir verlangt hatten - war dies für mich der Inbegriff von einem Grund zur Freude.

"Danke!", sagte ich also, fast schon schüchtern. Wer hätte gedacht, dass ich diese beiden Person einmal so mögen würde. Ich fühlte mich beschützt und lieb gehabt, zum ersten Mal seit Ewigkeiten. Nur Exit fehlte, aber ich wusste, irgendwann würden wir ihn wieder dabei haben. Diese Gruppe war eine kleine kaputte Familie - und die wollte ich beschützen, mit allem was mir zur Verfügung stand. 

 

A very Gwenny Christmas

Es schneite. Flocken wirbelten vor dem Fenster umher als wollten auch sie Weihnachten feiern. Jay saß am Küchentisch und  kippte Müsli in eine Keramikschüssel.

"Hohoho! Wart ihr auch alle artig, dieses Jahr?" Die tiefe Männerstimme passte absolut nicht zu der jungen Frau, die gerade den Wohnraum betrat. Jay war Ciaras Fähigkeit eigentlich gewohnt, konnte aber trotzdem nicht anders, als kurz aufzusehen. Andy, der neben Jay am Tisch hockte, stellte seinen Kaffee beiseite und grinste "Santa" über die Schulter hinweg an.

"Ich war ziemlich unartig. Du solltest mir heute Nacht eine Lektion erteilen."

Oh Gott, dachte Jay. Er hätte am liebsten sein Gesicht in der Schüssel vergraben. "Pass auf, dass du nicht zu viel Lärm machst, wenn du durch den Kamin kommst." Ciara lachte. Sie ging zur Theke, um sich auch einen Kaffee zu holen. Mit der Tasse in der Hand drehte sie sich zu den Jungs um und erwiderte in ihrer normalen Stimme:

"Guten Morgen, Grinch. Ich werde mir Mühe geben."

"Na na", tadelte Andy. "Für Grumpies gibt's keine Geschenke."

Geschenke für'n Arsch. Ich hätt' einfach gern Stille Nacht, seufzte Jay innerlich. Er beeilte sich, sein Frühstück zu beenden und abzuspülen. Das hatte nicht nur den Grund, dass er gerade wenig Lust auf seine WG hatte. Er hatte bis zum Nachmittag einiges zu tun. Jordan hatte ihm tatsächlich einen Raum besorgt. Der musste aber noch hergerichtet und geschmückt werden. Hiroo war bestimmt auch schon auf dem Weg, um den Film und Spiele zu holen. Unschlüssig, was er von dem Tag erwarten sollte, stapfte Jay durch die weiße Pracht.

Es war früher Abend. Hiroo landete Knie-tief in einem Schneehaufen. Sie war den kürzesten Weg durch den Park gelaufen und sprang nun eine kleine Böschung hinunter, darauf bedacht nicht hinunterzurutschen. Sie war etwas außer Atem. Im ersten Moment in dem Sgt. Hofmann ihr wachsames Auge von Hiroo abgewandt hatte, war sie getürmt. Sie hatte neben den ihr und Devy zugeteilten Haushaltseinkäufen noch etwas anderes im zentralen Einkaufszentrum besorgt. Die Hausleiterin Mrs. Nelson hatte gestern Abend ihre Koffer gepackt und war für die nächste Woche vermutlich irgendwo bei ihrer Familie. Währenddessen lagen in Hiroos Umhängetasche die Bestellungen die sie vor einer Woche im Namen von Mrs. Nelson aufgegeben hatte. Niemand würde diese kleine Fehlberechnung auf dem Konto von Mrs. Nelson bemerken. Sie würde ohnehin nur etwas Gutes damit beitragen.

"Saiwai ni mo, Devy was around when the clerk asked me for permission. Way too suspicious for my taste. But Devy really made him believe Mrs. Nelson would've ordered something like this... Too naive for her own good." Am Ende des Abhangs sah sie schon den Weg zu einer einsam stehenden winterlich eingeschneiten Hütte. An einem der zwei Fenster in denen elektrisches Licht brannte, konnte sie einen Schatten erblicken. Ihr machte die Kälte nicht viel aus, aber das Gefühl eines warmen Kamines war für sie in diesem Moment ein doch wohlklingender Gedanke. Diesen müsste sie so schnelle es ging entzünden.

Diesmal konnte es sich Devy einfach nicht verkneifen. Normalerweise konnte man ihr eine gewisse Friedfertigkeit nachsagen, und einen sparsamen, regelkonformen Umgang mit ihren Kräften, aber nun fühlte sie sich zu einer Ausnahme berechtigt. Nicht zuletzt auch daher, weil die Gelegenheit sich wohl nicht deutlicher hätte anbieten können, wie das Mädchen fand.

Mit merkwürdig federleichten Schritten und „lightheaded“, was ihre Stimmung anging, war Devy Hiroo gefolgt. Jeder Meter kam ihr vor wie ein Wagnis, aber daher auch wie ein Erfolg – und wenn ihr diese Art von Antrieb bisher auch eher unbekannt war, im Moment funktionierte er ganz gut. War es die Genugtuung darüber, einmal die Listigere zu sein, Rache für tiefgefühlten Verrat üben zu können? Denn Hiroo hatte sich wohl bereits daran gewöhnt, die Gutmütigkeit und Sympathie ihrer Mitbewohnerin ausnutzen zu können. Die Badgeschichte war längst nicht das Einzige, was vorgefallen war, und inzwischen brauchte auch Devy niemand zu erzählen, dass die Neue in Wohngruppe 11 in krumme Dinger verwickelt war. Keiner musste ihr ein weiteres Mal sagen, dass man sich von fragwürdigen Espern wie ihr fernhielt. Es war nun eine Sache zwischen den Zweien. ,Hiroo kommt diesmal nicht so leicht davon‘, dachte Devy, während sie weiter durch den Schnee stapfte und die gut Vermummte nicht aus den Augen verlor. ,Ich habe wirklich bis zuletzt meine Zweifel bezweifelt, aber Mrs. Nelsons originale Einkaufsliste lässt mir keine andere Wahl.‘ fügte sie bestärkend hinzu.

Was Hiroo mit der merkwürdigen Auswahl an Diebesgut vorhatte, das war die nächste Frage, und vielleicht hätte Devy diese bereits gestellt, wenn nicht eine Neue dazugekommen wäre: Was wollte das Mädchen mit den inzwischen knallrot-pink gefärbten Haaren in dieser Dunkelheit und Kälte hier draußen? Am Heilig Abend, verdammt noch mal! Hiroo machte es einem echt nicht einfach, sie zu verstehen, was Devys Neugier befeuerte. Das musste auch so ein Grund dafür sein, dass sie sich hier rausgewagt hatte – obwohl es nicht ihrem gewöhnlichen Verhaltensmuster entsprach, gegen so offensichtliche Regeln wie die nächtliche Ausgangssperre zu verstoßen.

Von Devy selbst unvermutet spielte wohl auch reine Abenteuerlust hinein, wenn es darum ging, sie zu einer solchen illegalen Verfolgungsjagd zu motivieren. Ein stärker absteigendes Gelände zwang sie sogar dazu, Hiroo immer näher auf die Fersen zu rücken, um sie diskret im Blick zu behalten. Aber dann – dann pfiff Devy auf einmal auf Unauffälligkeit. Es war einfach die perfekte Stelle für etwas noch viel Aufregenderes und etwas, was sein musste – ein kleiner Stups, mehr war kaum nötig. Die Lawine hatte sich als kleiner, überhängender Haufen formiert und war rasendschnell gewachsen -an Größe und Schnelligkeit. Von oben war gut zu beobachten, dass es diesmal Hiroo war, die es unerwartet traf.

Jay betrachtete sein Werk. Girlanden in Rot, Grün und Weiß schlängelten sich an den Wänden des Raumes entlang. Neben dem Kamin stand ein kleiner Plastikweihnachtsbaum, den nach Jordans Auskunft keiner mehr für Weihnachtsfeiern benutzte und der deswegen lange im Keller versackt war. Aber geputzt und mit bunten Weihnachtskugeln behängt sah er schon viel ansprechender aus. Der verbogene Weihnachtsstern auf der Spitze lotete die etwas schief stehende "Tanne" wieder etwas aus. Jay nahm ein paar Schnipsel Konfetti aus einer der Tüten und ließ einen bunten Papierregen über dem Tisch niedergehen. Alles für Gwens Vision von Weihnachten. Ein paar der Papierfetzen landeten auf den Papptellern und der Kuchenabdeckung. Eine weitere Ladung Konfetti ergoss sich über den Boden.

Jetzt fehlte nur noch Hiroo. Sie war spät dran. Gwen war zwar auch noch nicht da, würde aber bald bei der Hütte aufkreuzen. Eigentlich wollten sie vorher alles fertig haben. Jays Blick glitt zum Fenster. Es war schon seit einer Weile dunkel.

Hiroo spürte einen Ruck der durch ihre Beine ging. 'Did I...? Whats this heat signature doing up there? Someone followed me...' Ihr fiel keines von den Mädchen in ihrer Wohngruppe ein, das es sich getraut hätte ihr zu folgen. Oder viel mehr, war es denen sicher Recht, wenn sie auf und davon war für den Weihnachtsabend. "Dare... who's there?" Sie schaute sich nach oben um und bevor sie mehr als die Silhouette der an der Hügelspitze stehenden Person erkennen konnte, erfasste sie eine Schneelawine aus dem Nichts.

Sie musste sich für einen Moment besinnen, während sie unter einem Meter Schnee begruben lag. Im letzten Moment hatte Sie die Umhängetasche losgelassen. 'I hope the packages aren't damaged...' Der Schnee drückte sich in ihren Nacken hinein, ebenso wie der Rucksack in ihre Schulterblätter. "Fuck, my shokupan. Fucking damnit." Während Sie sich aus dem Schnee heraus kämpfte malte sie sich aus, was sie gleich machen würde. "Gotta be this shikkui, Vela... This time she came alone. That's her last fault.", fluchte sie vor sich hin. Sie schmiss den Rucksack herum, während sie auf den nun eingeschneiten Weg heraustrat. Der Reißverschluß hatte sich unter der Lawine gelöst und um sie herum lagen die gerade erst fertig geklebten Sushi. Ein Reiskorn klebte in ihrem pinkroten Haar. Der Schnee verdampfte in Hiroos Nacken. Sie legte den Rucksack mit dem Weihnachtsessen zur Seite und machte einen Schritt auf den Hügel zu.

Im letzten Moment erschrak Devy selbst darüber, wie viel Energie sie  in den kleinen Stupser gelegt hatte, der nun den schneebedeckten Abhang in Bewegung setzte. Als Hiroo unter der weißen Last begraben wurde, fürchtete sie Schlimmstes. Erstarrt beobachtete Devy dann, wie ihre Zimmergenossin dampfwnd- gleich einem Phönix - dem Grab  entschieg und sich geistesgegenwärtig umwandte. Devy war nach Weglaufen zumute, als hätte sie einen Bienenschwarm mutwillig aus dem Winterschlaf gerissen. Und doch, sie wusste, dass das nicht ankäme, weder bei Hiroo noch bei den andern und der Heimleitung, die zu alarmieren ihre Mitbwohnerin nun jedes Recht hatre, fühlte Devy. Wer hätte es nicht gegen sie verwendet? Also standen  die beiden  Mädchen da, eins oben, eins unten- und irgendwie dennoch auf einer Ebene. nEine merwürdige Lage, auf die Devy nur reagieren konnte, indem sie umso lauter ihren Standpunkt verkündete: "Guck, ich kann mit viel leben, aber nicht mit Dieben. Komm mit und gib alles zurück oder....es gibt was!"

Bevor Devy ihren Satz beenden konnte, stürmte Hiroo bereits los. Devy kam währenddessen seelenruhig den Hang heruntergestapft. "What do you even know?", hallte es über den Abhang. "You... all of you. What do you think you know of me? Living in this sheltered home of yours. Getting presents for christmas, or even just a letter from your parents. So annoying, your parents're probably even paying them for you to stay. And I..." Sie kam keine zwei Meter vor Devy zum stehen.

Devy war nicht darauf vorbereitet, von dieser Seite auf die Angelegenheit zu blicken. Gut, irgendwo hatte sie schon immer Neid auf diejenigen -und die wenigen - im Trainingszentrum empfunden, die auf Wunsch ihrer Eltern ins Programm gekommen waren und maximal möglichen Kontakt zu ihnen hielten. Solche fanden sich oft im Elitebereich wieder, zu dem Devy sich mit gewissem Stolz zählte. Daher fiel es ihr nicht ein,über die von der Orga verteilten Gutscheine hinaus große Ansprüche zu stellen, zumal die ab einem gewissen Alter leistungsabhängig ausfielen. 

Dieser Logik nach hätte Devy Hiroo Faulheit vorwerfen können, weil sie nicht vermutete, dass ihre Zimmernachbarin am nächsten Tag irgendwie an der Bescherung beteiligt sein würde. Gleichzeitig verstand sie etwas von der Enttäuschung darüber, was an Weihnachten an diesem Ort nicht kindlichen Erwartungen genügte. Mehr, als sie sich selbst gegenüber zugegeben hätte. "Hey, bei blöden Kommentaren über meine Eltern werd ich ganz allergisch. Da würdest du von anderen noch was ganz andres hören." grummelte sie daher nur. "Wenn du jetzt sofort mitkommst, haben wir vielleicht noch die Chance auf ein anständiges Weihnachten. Mach es ums doch nicht so schwer."

"I'm not sure where you got this idea of winter wonderland with Sgt. Hofmann, but I'm not coming with you. Got that?" Sie klopfte ihre lange zerschundene Jacke zurecht. "You're only thinking about your shortlived dream of a proper christmas with the others." Sie zog ihre Jeanshose zurecht und zog etwas von ihrem Hinterteil ab. "Meanwhile you ruined everthing I've worked this whole day on." In ihrer Hand lag ein zusammengeklumpter halb zerfallener Sushihappen.

Vielleicht kam Devy gerade der Antwort auf die Frage näher, wo in aller Welt Hiroo an diesem Abend noch hinwollte - Devys Neugier wurde durch den Anblick des halben Reisbällchens jedenfalls nurgrößer. "Also das Weihnachtsessen macht keiner aus der Wohngruppe, das wird morgen geliefert." merkte sie dennoch in einem sachlichen Tonfall an. "Daher kann es nicht so schlimm sein. Überhaupt... schlimmer als was, das wüsst ich gern." fügte Devy herausfordernd an. Im Augenblick fühlte sie sich doch eher auf der sicheren Seite vor Hiroos gefürchteter Feueresper.

"Maybe I can grant you a preview. ", führte Hiroo bedeutend aus und drehte sich den Sushihappen wie ein Unikat hochhaltend um. "But you definetly want a taste of the real thing, don't you?" Sie stapfte einige Schritte und beugte sich zu einem Schneehaufen hinunter. Sie pappte ein wenig Schnee um den Sushi. "So... let's have a taste of this!", und mit diesen Worten drehte sie sich in einer Bewegung und ein puderverzauberter Sushiball flog auf Devy zu und landete bei ihr im Gesicht. Einige Reiskörner klebten an ihrer Wange, während sie verdutzt in das kindisch grinsende Gesicht von Hiroo blickte.

Ein Rumpeln durchbrach die weihnachtliche Stille. Jay fuhr zusammen. Was war das?, schoss es ihm durch den Kopf. Eine Dachlawine vielleicht? Doch dann hörte der junge Esper Stimmen von draußen. Einen Moment war er unsicher, ob er nachsehen sollte. „Ach, was soll's.“ Jay stiefelte zur Tür, trat hinaus in den kalten Dezemberabend und spähte in die Dunkelheit. Seine Augen brauchten einen Moment, bis sie sich angepasst hatten.

"Hiroo? Bist du das? Du bist verdammt nochmal spät!", rief er. Zuerst konnte er Niemanden sehen. Dann erspähte er jedoch das Schneechaos und als sein Blick nach oben schwenkte auch die beiden Gestalten, die vermutlich dafür verantwortlich waren. Das verwirrte ihn ein wenig. "Was ist denn hier los?", wollte Jay sagen. Er kam ganz genau bis "Wa-", bevor ihn etwas kaltes, nasses ins Gesicht traf. Dementsprechend veränderte sich seine Message zu einem schneespuckenden "Fuck!"

"With this aim, you better aim twice.", lachte Hiroo los. Aus ihrer Ausweichrolle heraus schaute sie in Richtung der vor sich hinfluchenden Stimme. Das Gesicht von Jay hatte eine pudrig weiße Nase. In Kombination mit dem gezwungen strengen Blick, den sie von ihm erhielt konnte Hiroo nicht länger und begann prustend vor sich hinzuglucksen. Ein dritter Schneeball flog durch die stille Nacht. Das Glucksen hielt für einen Moment an. Hiroo wischte sich den Schnee aus ihrem Gesicht. Mit dem weiß glänzenden Schnee in den Spitzen ihrer roten Haar hätte man sie glatt mit Santa oder wenigstens einem seiner Gehilfen verwechseln können. Sie schaute kniend von links nach rechts. In ihrer rechten Hand formte sie bereits den nächsten Schneeball.

Es war lange her, dass Devy ihre letzte Schneeballschlacht gemacht hatte. Wenn sie es in den letzten Jahren mit fliegenden Dingen zu tun hatte, dann war das samstags beim Teamsport, wo sie mal beim europäischen Fußball, mal beim Cricket dabei war, und neuerdings auch im Training. Die Gravitation sich schnell bewegender Gegenstände beeinflussen - sehr schwer und im Unterricht gar nicht so spannend, sondern konzentrationslastig. Im Moment genoss Devy es einfach, sich nicht viel Sorgen darüber zu machen, welche Beschleunigung sie auf eigene Faust in fallenden Objekten erzeugen konnte. Nicht mal, woher der Typ kam, dem sie aus Versehen eben eine volle Portion gegeben hatte, scherte das Mädchen im Moment sonderlich. Hiroo zu treffen - das schien als das wichtigste Ziel überhaupt, unabhängig von allem, was an diesem Tag bisher geschehen war oder noch passieren würde. Als es ihr gleich beim zweiten Ball gelang, hatte Devy umso mehr Grund, auf der Hut zu sein und zu neuen Attacken bereit. Es war eine Art zwangloser Spaß, wie Devy sich kaum an solchen erinnern konnte.

Es war einer dieser Momente. Jay verstand die Welt nicht. Er wischte sich den Schnee aus dem Gesicht und schaute zu den lachenden Mädchen hoch. Seine Miene spiegelte Verwirrung wider, gepaart mit einer Spur von Ärger. Jetzt hätte er gerne eine Wasser- oder Eisesper gehabt. Aber nein, das wäre ja zu schön gewesen. "Was zum Geier geht mit euch ab?!", rief er den Schneehügel hinauf. "Und wer bist du eigentlich?" Er zeigte auf Devy.

"Hey, don't point your finger like that, Rudolph. Just aim your red light on her." Ein saftiger Schneeball folgte ihrem Zuruf. Sie sah wie der Schneeball Jay knapp verfehlte.

Der Typ in der Tür der alten Hütte kam Devy auch auf den zweiten Blick völlig unbekannt vor. Vielleicht, weil er ein paar Jahre älter schien - dennoch, er hatte wohl nicht die Esper-Schule auf dem Campus besucht, in der nie mehr als hundert Schüler unterrichtet wurden. Die verteilten sich dann so über das Gelände oder verließen das Zentrum, dass man sich aus den Augen verlieren konnte, aber Devy war sich sicher, dass sie sich erinnern würde, wenn er einer der "alteingesessenen" Delinquenten gewesen wäre. Dass er ein Delinquent war, war indessen klar für sie. Anderenfalls würde er sich jetzt nicht hier in einer Hütte mit Hiroo treffen wollen - das schien schließlich Sache zu sein. Für Devy machte es mehr aus als eine von den üblichen Ordnungswidrigkeit ihrer Zimmergenossin. Tatsächlich legte sie es so aus, wie ihre verschiedenen Hausleiterinnen es ihr seit Jahren nicht anders vermittelt hatten- als Gefahr, und fahrlässiges Verhalten von Hiroos Seite. "Gut, dass ich hier bin." dachte das Mädchen und hätte gerne auch ihren nächsten Angriff voll auf den langhaarigen Fremden gerichtet, dem sie ganz bestimmt keine Antwort schuldete. Da aber Hiroo näher dran und wieder in Aktion war, verschob sie das auf einen anderen Zeitpunkt.

Jay rollte mit den Augen. "Are you fucking kidding me? But hey, let's find out who is better with red lights then." Ein weiterer Schneeball flog auf ihn zu und zischte an seinem Kopf vorbei. Vielleicht hätte er sich unter anderen Umständen an der Schneeballschlacht beteiligt, aber momentan war er nicht in Stimmung. Außerdem wurde ihm langsam kalt. Jay fröstelte. "Why don't we just go inside? I need to get some warmth."

Hiroo hatte Jay zwar schonmal schlagfreudiger auf ihre Sticheleien erlebt, aber dennoch amüsierte es sie. "Okay, okay... always in a hurry. I can warm you up and after that we'll see who looks better in the red light, how about that?" Sie grinste in sich hinein. "Just take the bag with the food, we'll come after you in a minute. We've got girls stuff to discuss."

"I see you are on fire again." Jay entschied sich, zumindest diese Herausforderung anzunehmen. Weil Weihnachten war. "Well, I can't wait", grinste er zurück und fischte den Rucksack aus dem Schneehaufen. Dann ging er zurück zur Hütte.

Devy hörte alles, hatte aber das Gefühl, nur jedes zweite Wort dieser Unterredung zu verstehen. Woher sich die beiden kannten, war zum Beispiel nicht festzustellen; aber dass sie sich kannten, umso mehr. Vielleicht brauchte das Mädchen wegen der Kälte und der Aufregung einen Extramoment, aber dann erschien es vor ihr wie ein rotes Tuch: Zusammen reingehen, gegenseitig aufwärmen, Rotlicht? Es wäre Devy vielleicht unangenehm gewesen, Hiroo ein unrüchiges Verhalten einfach so zu unterstellen, aber nun konnte sie sich keine andere logische Erklärung mehr denken. "Hey, hey!" brach es aus ihr heraus, bevor sie sich selbst eine kurze Bedenkpause geben konnte oder wenigstens ihre Kampfansage sinnvoll formulieren. "Hütten-Typ! So schnell ist das nicht beschlossen. Wenn du sie nur anfasst, solange ich hier bin - nur über meine Leiche!"

Jay war schon bei der Hütte, als das fremde Mädchen ihm noch etwas hinterherrief. Was hat die denn für ein Problem?, dachte er. Dann öffnete er die Tür, drehte sich noch einmal auf dem Absatz um und rief zurück: "Jetzt mach keinen Stress. Hiroo und ich werden uns schon nicht schlagen. Schließlich ist heute Weihnachten." Mit diesen Worten ließ er sie stehen.

Devy sah dem Fremden einen Moment verdutzt hinterher. Jemand wie er hatte kein Recht, sich über sie auf diese Weise lustig zu machen, als verstände sie nicht, was hier wirklich vor sich ging. In ihrer Fantasie ließ sie bereits seine Füße im Schnee einsinken. Devy hob gerade ihre Hand und bündelte ihre Konzentration, als Hiroo sie aus dem Fluss riss.

Der Winterweihnachtzauber war gebrochen. Das breite Grinsen von Hiroo legte sich. Hiroo drehte sich zu Devy um. "So, uhm, you have anything else planned for todays evening? Sgt. Hofmann probably missing us. Or at least you." Hiroo schaute sich in der Nähe des Lochs aus dem sie ihres Schneelawinengrabes enstiegen war nach ihrer Umhängetasche um.

Bei dem Gedanken drehte sich Devy fast der Magen um. Sgt. Hofmann konnte ganz schön unangenehm werden, nicht prinzipiell, aber in gewissen Situationen, die man kaum voraussehen konnte. Dass es sich im Moment um so einen Zeitpunkt handelte, war allerdings weniger schwer zu erraten - mit den Worten "Ich habe vieles vorzubereiten, meine Jahresrückblicksrede und so, stört mich für ein paar Stunden mal nicht." war die Ersatzhausleitung schließlich in dem ihr zugeteilten Gästezimmer verschwunden. Das war der Auftakt zu allem, weil Hiroo an der Stelle ebenfalls ihre Sachen gepackt hatte und versucht hatte, sich unbemerkt aus dem Staub- oder besser gesagt- in den Schnee zu machen.

Vielleicht war es sehr viel besser, wenn Devy und Hiroo zurückkamen, bevor Sgt. Hofmann oder irgendwer anders Wind von der Sache bekamen, aber andererseits...ohne Hiroo heimzukehren erschien dem Mädchen nicht viel geschickter. Sie fühlte die ihr von Anfang an aufgetragene Verantwortung, ein Auge auf ihre Zimmernachbarin zu werfen, schwer auf den Schultern. Devy sah ein, dass sie zwar die Macht hatte, jemanden für einen bestimmten Zeitraum dort festzuhalten, wo er sich befand, aber in Bewegung versetzen konnte sie keinen. Ja, vielleicht war es angesichts der Situation am Klügsten, dazubleiben und die Situation, die nun mal eben war, sie war, unter Kontrolle zu halten. Da sagte sich Devy jedenfalls. "Na gut...wenn das so ist...Ich glaub, wenn wir schon eine Ausrede brauchen, dann denken wir uns irgendwas Gemeinsames aus." entschied sie sich also nach einer sehr angebrachten Bedenkzeit, in der Hiroo ihre Tasche im Schnee wiederfand. Sie schaute noch einmal argwöhnisch zur Tür, hinter der der Fremde sich bereits zurückgezogen hatte. Was immer hier vorging - im Notfall konnte es nützlich sein, von Innen heraus Informationen zu sammeln, die man zur Erklärung immer noch auf den Tisch bringen konnte. Mit dem Gefühl, ihre Prioritäten geordnet zu haben und im Grundprinzip geradlinig zu handeln, ließ sich Devy auf dieses Experiment ein.

"Sutekina", Hiroo nahm die Umhängetasche aus dem Schnee an sich und schloss sie. Sie drehte sich in Richtung der Hütte und kam geradewegs auf Devy zu die irgendwie gedankenverloren da stand. "Hey, Devy. If you could just do anything for me today: Zip it." Ihr einschüchternder Blick löste sich auf und wich zur Seite aus. "I know I'm not being fair to you, probably getting you into trouble with Sgt. Hofmann. But i If you want to denigrate me, please do it before the other girls, not this evening."

Hiroo hatte Devy gerade an den richtigen Stellen erwischt. Um Mitgefühl bitten, Fehler zugeben und bedauern, und dann in dem gleichen wehleidigen Tonfall ein schlechtes Gewissen wecken - es funktionierte. Nicht zuletzt kam Devy sich nun ertappt vor, da ihre Zimmergenossin anscheinend schon vermutete, dass sie deren Fehltritt zumindest als entlastendes Material in der Hinterhand behalten wollte. Auf einmal kam ihr das noch nicht einmal als Notfallplan korrekt vor. Irgendwie steckte sie ohnehin nun mit drin - und hatte schon vor Hiroos letztem Schachzug Möglichkeiten für ein Matt  freigegeben "Ja, dann lassen wir es für heute gut sein." schob das Mädchen dennoch bluffend ein. "Ich schau bei eurer komischen Hütte rein und morgen früh...gucken wir nochmal." Mit dieser vorgetäuscht selbstbewussten Antwort war Devy erst einmal zufrieden.

Hiroo fiel ein schwerer Stein vom Herzen. In der Bewegung an Devy vorbei fasste sie ihr kurz mit der Hand auf die Schulter. Sie hielt einen Moment inne, nachdenkend, setzte ihre Bewegung jedoch in Richtung der Tür fort. Sie sammelte noch einige der herumliegenden Sushi ein. "Hope the rest of the food made it... didn't expect a fourth plate on the table." Sie lächelte verlegen. "You coming?" Sie hielt die Tür für Devy auf.

Devy wusste nicht, was sie erwartet hatte. Das militärische Sperrgebiet, in dem das UnEsCo-Zentrum lag, war voller merkwürdiger Geheimnisse, über die sich an Lagerfeuern und auch sonst gruselige Geschichten erzählen ließen. Die Außenwelt, die vielen auch nur noch von Fieldtrips, aus Berichten und seltenen Filmvorführungen bekannt vorkam, konnte den Kindern sogar noch viel mysteriösere Vorstellungen elizitieren ( ;) ). Was Devy also über den Inhalt einer Hütte, die an einem abgelegenen Ort des Trainingszentrums gelegen war und anscheinend von einem Organisationsfremden beschlagnahmt wurde, befürchten musste, lag irgendwo zwischen diesen Extremen: Den Einrichtungsgegenständen eines verfluchten victorianischen Salons, dem Eingang zu einem unterirdischen High-Tech-Bunker oder dem Equipment eines fusionierten Drogenumschlagplatzes/Sado-Maso-Dungeons. Letztere Option erhielt durch Devys unvergessenen ersten Eindruck bezüglich des aus dem Haus aufgetauchten Langhaarigen eine besondere Glaubwürdigkeit. Und doch - es hätte keinen größeren Kontrast geben können als zwischen ihrer ersten Vorstellung und dem, was sich Devy nun auftat.

Die Tür öffnete sich und ein kalter Schneehauch wehte mit den Mädchen herein. Die dunklen, mit Girlanden geschmückten Holzwände der Hütte schimmerten golden im Licht der wenigen elektrischen Lampen. Trotz der Tatsache, dass das Holzhäuschen klein und abgelegen und zudem nicht gerade neu war, besaß es einen vernünftigen Stromanschluss. Davon zeugte auch der Fernseher, der im hinteren Teil des einfachen, aber gemütlich eingerichteten Raumes stand. Um ebendiesen gruppierte sich eine Sitzecke mit Sofa und zwei Sesseln. An der Wand rechts daneben befand sich ein Kamin, neben dem der dekorierte Plastikbaum Platz gefunden hatte, der maximal so groß wie Gwendolyn war. Also, in ihrem zehnjährigen Zustand. In der Mitte des Raumes stand der gedeckte Tisch. Er wirkte mit dem Wegwerfgeschirr und den einfarbigen Servietten recht bescheiden. Doch gleichzeitig sorgten ein paar (noch unangezündete - schließlich würden sie damit auf Gwen warten) Kerzen, sowie Konfetti für einen stimmungsvollen Anblick. Das zumindest hatte Jay gehofft, der gerade den Inhalt von Hiroos Rucksack auspackte und mit einem leicht skeptischen, aber zugleich neugierigen Blick inspizierte. Er drehte sich um, als er Devy und Hiroo hereinkommen hörte und sprach letztere gleich an:

"Hey, ich hab zwar nicht noch mit jemand viertem gerechnet, aber das Essen sollte trotzdem reichen. Apropos Essen." Er hielt eines der Sushi-Röllchen hoch. "Sowas hab ich noch nie gesehen. Was ist das?"

"Okay, Cowboy. I understand what you want to say. You've only seen beans on your table and I'm not the best of cooks." Sie kam geradewegs auf Jay zu und zeigte auf die teils angedellten Reisröllchen. "This is called sushi. It's sticky rice with vegetables and arranged in a roll of nori." Sie holte eine zerknautschte Papiertüte aus dem Rucksack heraus. "And this is sweet bread my mother used to make. It's not really her receipt, its more like I remember it. Called shokupan. You can eat it with anything, I mixed in some of the regional food around here." Während sie das so erzählte holte sie kleine viereckige Brote heraus die am Rand zusammengebacken waren, fast so klein wie Cupcakes. Daneben holte sie zwei geschlossene Schüsseln heraus. Der flauschige Teig begann sich wieder in seine ursprüngliche Form zu bewegen. Hiroo öffnete die Schüsseln. "This is blueberry and in this one's cranberry creme." Sie nahm einen Löffel und fing an das Shokupan mit der Creme zu dekorieren. "Probably because I expected some vigilante ambush I didn't add the topping at home. Didn't think them to be such a rarity to be hunted down for them though." Sie schaute über die Schulter zu Devy herüber. "You wanna help, Devy?"

Eine Weihnachtsfeier? Danach sah die Deko jedenfalls aus. Mit Tannenbaum und allem drum und dran. Gut, Wohngruppe 11 hatte leicht höhere Ansprüche, aber irgendwie machte diese Kulisse einen heimeligeren Eindruck. Geradezu ... familiär. Anders als ihre Pflegemutter in England hatte Devy auch kein Problem mit Plastikbäumen. Ihre ersten Weihnachtsfeste in Australien hatte sie ja gar nichts anderes gekannt.

Das Essen kam dem Mädchen schon eher exotisch vor, aber eine gewisse Vielfalt kam auch im Trainingszentrum auf den Tisch. Einen Moment musste Devy darüber nachdenken, wie Hiroo wohl zu den ungewöhnlichen Zutaten kam, dann hatte sie Flashbacks von den letzten zwei oder drei Botengängen. 'Interessant', dachte sie fast mehr bewundernd als vorwurfsvoll in Hiroos Richtung. Dieses Event schien ja von langer Hand geplant zu sein. Umso mehr bereute Devy es, in ihrer Unwissenheit Teile des Abendessens in alle Windrichtungen verteilt zu haben. Und umso mehr sah sie auch den Fremden mit neuen, fragenden Augen. Jedenfalls nickte sie, als Hiroo sie um Hilfe bat.

"Ich meine, eigentlich haben wir ja keinen Kochdienst heute, aber es gab ja... eine Planänderung", murmelte Devy und zuckte mit den Schultern.

Jay hörte Hiroos Vortrag aufmerksam und mit gewissem Interesse zu. Sie hatte ganz schön was aufgefahren, das musste man ihr lassen. Die Namen der verschiedenen Speisen klangen zwar seltsam und Jay hatte sie schon wieder vergessen, kaum dass er sie gehört hatte. Doch mindestens die kleinen Brote sahen ähnlich aus wie das populäre Weißbrot. "Und sowas isst man in Japan?" Er drehte das Wie-hieß-das-nochmal?-Reisding in der Hand. Es war ein wenig zerknautscht, aber noch ganz ansehnlich. Der schwarze Rand turnte ihn noch ein wenig ab, aber er würde in Hiroos Gegenwart nicht ihr Essen beleidigen - zumal er es ja zugegebenermaßen noch nicht probiert hatte. "Na, dann probieren wir doch mal", sagte er mehr zu sich selbst und schob sich das Sushi in den Mund.

"Maybe you could...", Hiroo reichte Devy eine der Schüsseln, "...add the topping with the cranberries and after that, you can sprinkle some of the pistachio nuts on top of it." Zwischendurch beobachtete sie Jay, wie er einen der angedellten Sushihappen in den Mund warf.

Die Konsistenz des Röllchens und der Geschmack der Zutaten überraschten Jay. Reis hatte er schon gegessen, doch selbst der war anders zubereitet worden. Alles in allem war die Kombination gewöhnungsbedürftig, hatte aber auch was. "Strange, but kinda nice", kommentierte er seine Geschmackserfahrung. "Du hast dir auf jeden Fall echt viel Mühe gemacht." Er warf Hiroo einen anerkennenden Blick zu und begann, das Essen auf weiteren Papptellern zu drapieren. Anscheinend hatte sie sogar verschiedene Varianten von dem Reiszeug gemacht.

"Arigato.", sie versuchte ihre Verlegenheit zu überspielen, indem sie weiter anfing über die richtige Essweise von Sushi zu nuscheln. "You should definitely try them with some of the soy sauce or pickled ginger. Or you could try some of the was..." Gerade als sie zu ihrem liebsten Teil kam wurde Sie von Jay in ihrer Ausführung unterbrochen.

"Wo wir gerade von Überfällen reden - wollt ihr mir vielleicht mal erklären, wie das eigentlich alles zustandegekommen ist?" Er nickte mit dem Kopf in Richtung der Rothaarigen. "Devy, oder? Was machst du hier?"

"Äh ja, Devy, so heiß- so nennt man mich", stammelte Devy verwirrt. Sie konnte sich kaum vom Nachdenken darüber lösen, wann inmitten der Essensdikussion von Überfällen die Rede gewesen war. Als einen solchen hatte sie ihre kleine Überraschungslawine auch nicht wahrgenommen. Dennoch: Devys Entwicklung von einer Heldin, die gekommen war, die fehlgeleiteten Pläne ihrere Zimmernachbarin zu vereiteln, zu einem spontanen Weihnachtsparty-Gast musste natürlich Fragen auslösen, die jetzt schwer zu beantworten waren. Für sie selbst in erster Linie, fand sie.

"Ich wollte nur aufpassen, dass ... dass Hiroo nichts passiert", erklärte das Mädchen so selbstsicher wie möglich, obwohl es ja gewissermaßen der Wahrheit entsprach. Die Implikation, dass der Fragensteller für sie Gefahrenpotential besaß, wollte Devy schon mitvermitteln, aber vielleicht nicht so, dass die Gefahr tatsächlich eintrat. "Also, wir gehören ja als eingeteiltes Team zusammen, mit Verantwortung und so", fügte sie hinzu und dann noch, mit einem Rest von Übermut, der übriggeblieben war: "Ich hab ne Menge mit Hiroo zu tun, aber woher du sie kennst, das wundert mich."

Hiroo schien noch mehr in petto zu haben, als ohnehin schon. Der Ausflug in die Welt der japanischen Kochkunst verschob sich allerdings ein klein wenig. So langsam begann sich die Geschichte um die beiden - wie Jay nun erfuhr - Zimmernachbarinnen zu lüften. Alles konnte Jay trotzdem noch nicht nachvollziehen, zum Beispiel warum man sich um Hiroo hätte Sorgen machen müssen.

"Süß. Auch wenn ich finde, dass das für die Geburtstagsparty eines zehnjährigen Mädchens bisschen übertrieben klingt. Aber hey - wenn ihr so zusammenhängt, dann feier ruhig mit." Kurz dachte Jay, Hiroo hätte ihm auch Bescheid geben können. Aber sie hatten sich in den letzten Tagen nicht wirklich gesehen und so wichtig war es jetzt auch wieder nicht. Ob Gwen das Auftauchen dieser Devy vorausgesehen hatte? Falls nicht, würde sie auf jeden Fall überrascht sein und dann - wie man die Kleine eben kannte - ziemlich schnell Freundschaft mit der anderen Esper schließen. Jay musterte Devy. Er war nicht gut darin, das Alter anderer Leute zu schätzen. Aber sie sah definitiv jünger aus als er. 

"Wir hatten das Vergnügen, in einer Mission ... uhm zusammenzuarbeiten", beantwortete Jay ihre letzte Frage. "Aber von der hat dir Hiroo ja wahrscheinlich schon erzählt."

Seit der Anspielung auf die Kindergeburtstagsparty hatte Devy eine neue Welle der Verwirrung überrollt. Es kam oft genug vor, dass sie ironische Aussagen nicht richtig verstand, und auch die darauf folgende Aussage "wenn ihr so zusammenhängt, dann feier ruhig mit" klang irgendwie mehr passiv-aggressiv als einladend. Das Mädchen fühlte sich ohnehin klein diesem Fremden gegenüber, der sie von oben herab abschätzte. Und dann kam die Sache mit der Mission. 'Natürlich weiß ich, dass sie auf einer Mission war.' dachte Devy im ersten Moment, als hätte jemand das spöttisch angezweifelt. Ihre defensive Haltung zu dem Thema entsprang der Tatsache, dass Devy von Hiroos Einsatzerfahrung erst vor ein paar Wochen mitbekommen hatte - und dass sie es viel eher realisieren hätte können. Bei der Hausarbeit, den Trainingsstunden, beim Heimstudium und in den Pausen verbrachten die beiden 17-Jährigen eine Menge Zeit zusammen, wenn zusammen "im selben Raum" bedeutete. Und ja, manchmal sprachen sie wirklich miteinander, tauschten Bemerkungen aus, erzählten sogar kleine Anekdoten, wenn sie passten. Zwischen Kommentaren wie "Oklahoma? Da war ich schon, aber nur für ein paar Stunden, weil es dort brennen sollte." und "Der Staubsauger erinnert mich an einen Gabelstapler, der mich mal töten wollte. Sie hieß Tetya." hätte Devy etwas schwanen können. Ganz zu schweigen von den Gerüchten, die in Wohnheim 11 kursierten - aber das waren ja viele gewesen, die sich sogar widersprachen. Manchmal war es besser, nicht alles wortwörtlich zu nehmen, ließ sich feststellen. Mit Hochdruck versuchte das Mädchen nun trotzdem, den Fremden irgendwie in ihren Erinnerungen von Hiroos Erzählungen wiederzufinden, als kleinen Beweis, dass sie total eingeweiht war in Hiroos beeindruckende Agenten-Vergangenheit. Sie konnte vor ihm nicht so klein dastehen, wie sie sich fühlte, und vielleicht war es aus dieser Art Verzweiflung, dass sie ihren Geistesblitz ohne nachzudenken hinausposaunte: "Warte, du kannst nicht  ‚2 meters tall. That’s like 7 feet.‘ Sein. Du bist also…‚irritating electronics guy‘.“