Skip to main content

Contemplate

Zurück

Den Rückflug brachten die Rekruten in einem engen Passagierabteil zu. Ein fünfter und ein sechster Sitz wurden von zwei bewaffneten Soldaten besetzt, die sich nicht für ihre "Schützlinge" zu interessieren schienen, aber wachsam blieben. Für Toilettengänge und ähnliche Anliegen war eine dritte Uniformierte vor der Tür stationiert worden. Jay hatte die Blonde beim Eintreten bereits als eine der erwachsenen Trainees vom Kansas-Gelände erkannt.

Dort landete das Militärflugzeug auch schon nach wenigen Stunden. Unsere Helden mussten dennoch auch danach noch einige Minuten stillsitzen, während irgendwelche Vorkehrungen getroffen wurden. Aus dem Fenster konnten nur ein Flügel und Teile des Rollfeldes beobachtet werden, während der Ausstieg auf der gegenüberliegenden Seite lag. Die Soldaten, die im Sichtfeld der vier Rückgekehrten herumwuselten, ließen auf viele mehr um das Flugzeug herum schließen. Als endlich die Tür geöffnet wurde, von der Jay bekannt vorkommenden Rekrutin, und die Bande endlich aussteigen durfte, war von dem eben noch zu vermutenden Menschenauflauf allerdings kaum etwas übrig. "Wir sind zu Hause." erklärte die Soldatin. "Ich bringe euch jetzt zur Krankenstation für den obligatorischen Gesundheitscheck. Danach werdet ihr wie gewöhnlich in eure Wohnräume zurückkehren dürfen. Kein Stress, nichts an dem Vorfall soll euch mehr Schaden einbringen, als es das bereits getan habt. Euch wird nichts angelastet." das sagte sie mit einer Stimme, in der tatsächlich viel Ruhe und sogar etwas Sympathie lag, wobei es an Selbstsicherheit nicht fehlte. "Es wird auch für die entsprechende psychologische aufarbeitung gesorgt werden, im Moment ist es jedoch wichtig, dass ihr über die Ereignisse mit niemandem sprecht. Das würde die Aufklärung stören und nur unnötige Unruhe geben. Aber dazu werden euch auch noch Papiere vorgelegt, sobald ihr in der Krankenstation seid. Fürs Erste folgt mir einfach." 

Es geschah nicht anders als die Rekrutin es angekündigt hatte. Die üblichen Checks wurden durchlaufen, die Papiere unterschrieben. Danach waren Exit, Gwen, Hiroo und Jay in die "Freiheit" des Campus entlassen.

Die Zeit des Flugs über blieb Jay still. Er dachte nach über das, was gesagt worden war und über das, was passiert war. Und über das, was passierte. Auch wenn man ihnen zugesichert hatte, dass jetzt alles gut war, spürte er eine Spannung, die diesmal nicht von der Elektrik der Maschine herrührte. Ab und an, wenn er sich unbeobachtet fühlte, ließ er den Blick wie zufällig über die Soldaten schweifen. Nur die Blonde kam ihm bekannt vor, aber das wunderte ihn nicht. Die UnEsCo beschäftigte viele Soldaten. Eigentlich war es erstaunlicher, dass er mal ein Gesicht kannte. Sie mussten lange warten, selbst als das Flugzeug schon gelandet war. Jay tat, als würde ihn all das nicht sonderlich interessieren, versuchte jedoch so viel aufzunehmen, wie ging, ohne auffällig zu werden. Die folgenden Informationen und den Gang zur Krankenstation nahm er kommentarlos mit. Es war wirklich die übliche Prozedur - selbst die Verschwiegenheitserklärung. Routine beizubehalten war eine der großen Stärken der Organisation. Er verabschiedete sich knapp von den anderen und machte sich auf den Weg zu seiner WG.

Das Haus empfing Jay kühl und still. Erleichtert atmete er aus. Keiner da. T war vermutlich beim Fitnesstraining und die anderen beiden waren am Wochenende sowieso nirgendwo zu finden. Jay ging zur Theke und begann einen Tee aufzusetzen. Dann hockte er sich mit der Tasse auf einen der Stühle und starrte aus dem Fenster in den Wald. So saß er eine Zeit lang da, bis er die Haustür hörte. Mit einem Satz sprang er vom Stuhl und huschte die Treppe hinauf in sein Zimmer. Wenig später hörte er Stimmen und Schritte. Um sich abzulenken holte er eines seiner Bücher aus dem Schrank, setzte sich auf's Bett und versuchte, ein wenig zu lesen. Nach einer Viertelstunde gab er auf. Er schwang sich aus dem Bett und begann, seine Formen für das Kampftraining durchzugehen. Irgendwann hatte er sie endlich los - die Gedanken, die ihm die ganze Zeit im Kopf herumgesurrt waren. Zeit zum Schlafengehen.

Der nächste Tag begrüßte Jay mit Routine. Aufstehen. Bad. Frühstück. "Oh, du bist ja wieder da" von seinen Mitbewohnern. Jay ignorierte das meiste davon. Er versuchte, sich auf seinen Tagesplan zu fokussieren, doch es fiel ihm an diesem Tag recht schwer. Die Zeit bis zum Abend schien extra langsam zu verstreichen. Umso schneller schlang er sein Abendessen hinunter, um zum alten Plaza aufzubrechen. Ein wenig aufgekratzt kam er bei dem Monument an. Noch war niemand anderes zu sehen. Um seine Unruhe zu überwinden und weil er einen klaren Kopf brauchen würde, begann Jay erneut seine Übungen.

Hiroo saß in ihrem Bett. In ihrem Traum aus dem sie gerade erwacht war, lief sie durch einen dunklen Tunnel. Aus verschlossenen Türen heraus hörte sie Stromschläge und dumpf klingende Stimmen. Ein elektrifizierender Geruch durchzog den Tunnel. Unter ihren Füßen wandelte sich der durchnässte Boden in eine steinerne Treppe. Ein Schrei kam den Tunnel herauf, etwas kam den Tunnel herauf. Hiroo drehte sich um und ein Wind schlug ihr ins Gesicht. Wasser floß an ihr herunter. Am unteren Treppeneingang erblickte sie ein blau leuchtendes Augenpaar. Der pechschwarze Tunnel vor ihr verriet nur in Nuancen die Größe dieses Wesens, das sich begann in den Treppentunnel hinein zu wühlen. Blaue Blitze schossen aus den Augen heraus und zogen am schwarz verbrannten Umriss dieses Wesens vorbei. Es war kein Fell, es glich eher einem zu schwarzem Schiefer verschmolzenen Federkleid. Der dunkle Stein des Mauerweks gab nach und ein Riss begann sich an der Decke nach oben auszubreiten. Stein um Stein brachen aus der Mauer heraus, während das Wesen sich immer weiter vorgrub. Sie schaute sich um, über ihr sah sie einen Türspalt durch den ein weißes Licht schien. Hiroo stand unentschlossen da. Wie paralyisert ließ sie das Wesen näher kommen. Oder sollte sie ainfach davonlaufen? Aus dem Mauerwerk lösten sich die Steine. Die Dunkelheit wurde durch vereinzelte Lichtstrahlen durchbrochen. Hiroo fasste sich den Entschluss dem ganzen nachzuhelfen und schlug auf die Wand ein. Die Decke öffnete sich und ein von unzähligen Sternen überzogener schwarzer Himmeln blickte auf sie hinab. Ein rötlicher Nebel durchzog die Luft. Der Stein unter ihren Füßen gab nach und einer nach dem anderen fielen in ein bodenloses schwarzes Loch unter ihr. Mit einem kurzen schnell verstummenden Schrei war sie wieder in der Realität.

Ein kurzer Blick durch den Raum ließ sie feststellen, dass sie wieder in ihrem eigenen Bett schlief. Es war alles wie sonst immer, als wären die zwei Tage in der psychischen Anstalt weit oben im Norden hinter den Grenzen des Landes garnicht passiert. Sie versuchte den gerade erlebten Traum wegzuwischen, es gab wichtigere Dinge zu klären. Die Gedanken mit denen sie gestern irgendwann eingeschlafen war, begannen wieder in ihrem Kopf zu kreisen. Sie schaute hoch. "Devy?" - "Are you okay? What happened?", kam es ohne zu zögern unter der Bettdecke von Devy hervor. Hiroo hatte nicht erwartet, dass Devy um diese Zeit schon wach war. Draußen konnte man die Dämmerung gerade erst erahnen. Hatte sie im Schlaf aufgeschrien? "I think I'm good..." Hiroo atmete noch einmal tief ein. "I was thinking and I still couldn't grasp any of it. The things that happened yesterday. What exactly do you know about Jackson? And these missions they're sending us on?" Hiroo versuchte ihren Ton ruhig zu halten.

Ein Räuspern war zu vernehmen, dann richtete sich Devy auf. Man konnte sie nur schemenhaft erkennen, aber man hörte ihr an, dass sie sich sammeln musste. "Colonel Jackson? Sie ist doch eine der Leiterinnen, ich habe sie in meiner Anfangszeit ein paar Mal gesehen. Musste in ihr Büro, aber ich hab nicht mit ihr geredet, das war meine Betreuerin. Daran muss ich immer denken, wenn du sie erwähnst, denn ich dachte immer, dass sie keine eigenen Einsätze mehr macht. Ich meine - man sagt, dass sie schon ne Menge geleistet hat. International, im Krieg. In Russland angeblich und sogar in Afrika. Keine Ahnung, das ist so dummes Gerede aus der Schulzeit, aber Colonel Jackson trau ich das zu. Die Narbe und so - was wohl ihre Esper ist? Ach, bei Medaillenverleihungen ist sie auch immer dabei, du kennst ja meine Sammlung." Devy deutete in dem Moment wohl an die Wand hinter sich, wo diese sechs tagsüber immer zu erblicken waren. "Mal schaun, wie die Meisterschaften dieses Jahr werden. Äh...zurück zum Thema, da sind ja viele Leute dabei, bei den Verleihungen, Colonel Jackson sitzt häufiger, glaube ich, weiter vorne und schaut nicht so, als würden unsere Rennergebnisse sie begeistern. So hab Ich das Erinnerung, falls Ich mich an die Situation gut erinnern kann, wegen Aufregung. Ich glaub, Jackson hat in ihrem Leben schon weit Spannenderes erlebt als Leichtathletik. Aber dazu kannst du ja mehr sagen." Hängte Hiroos Mitbewohnerin an. " Ich weiß, man darf nichts sagen, ich hab den Wisch ja auch mal unterschrieben. Aber...falls du....also falls du dich sowieso nicht daran halten willst..." Es entstand eine kleine Pause. " Bei mir enden die Informationen wenigstens. Versprochen."

Wenn sie so darüber nachdachte merkte Hiroo, wie wenig sie über die bisher mit Jackson erlebten Ereignisse geredet hatte. Es war nicht so als hätte sie sich den Wisch der UnEsCo bezüglich irgendeiner Verschwiegenheitsklausel durchgelesen oder gar zu Herzen genommen hätte. Es war viel mehr so, dass sie sich innerhalb des Campus niemandem hätte anvertrauen wollen. Devy wäre da wohl die Ausnahme. In ihrem Ausflug am Anfang des Jahres hatte Devy sicherlich auch einiges an Erfahrungen gemacht, doch wirklich darüber geredet hatten die beiden nie darüber. "It was such a weird thing.", begann sie. "I mean I've seen some stuff when I was living on the streets but at this campus I haven't had a mission that wasn't like a bad acid trip." Hiroo nahm noch einmal tief Luft. Sie war noch etwas verschlafen, langsam wurde ihr aber klarer im Kopf. "This time I thought I could figure out what Jackson was up to, but I couldn't forestall anything that happened there. I feel kinda trapped in whataver scheme she's running. The only difference to this place was the missing fence. And from what happened to Jackson, I'm not sure some parts of the UnEsCo didn't know of this place before we even went there." Hiroo schaute Devy forschend an. "Whatever was going on up there, they didn't tell us anything after everything blew up in our faces. The only clue I have right now is this guy I punched in the face pretending to be Jacksons nephew. I wonder what happened to him. You knew Jackson had family?"

Im Verlauf des vagen Missionsberichts, den Hiroo von sich gab, hätte man einige verschiedene Emotionen an Devys Gesicht ablesen können, wäre es nicht immer noch ziemlich duster gewesen. Die absolute Stille, in der man unregelmäßig ein lautes, teilweise überraschtes Aufatmen hörte,  verrieht jedoch, dass das Mädchen voll bei der Sache war.

Zum Ende hin, als Hiroo die Interaktion mit Jacksons angeblichen Neffen erwähnte, kam dann doch ein verwirrtes "Hä?" zurück, das Devy anscheinend nicht hatte kontrollieren können. Sie brauchte danach wieder einen Moment der Sammlung. "Also ich..." stammelte sie. "Das klingt absolut verrückt. Ich verstehe nicht. Ist irgendwas schief gelaufen oder so?" Bevor auf diese, beinahe ins Vorwurfsvolle schwingende, Frage geantwortet werden konnte, hatte sie es sich schon anders überlegt. "Warte, Jackson und Familie? Da war was. Ich habs nicht geglaubt. Aber ich fand die Idee irgendwie interessant. Irgendwer meinte mal, dass Jackson verheiratet sei. Also gewesen sei, aber ihr Mann...nee, das klingt schon absurd. Der soll wohl Verrat begangen haben? Was immer das heißt, Informationen weitergeben oder so. Ich mein, an Leute außerhalb...ich habe keine Ahnung. Nimm das nicht zu ernst. Das ist bloß eins von vielen dummen Gerüchten, die auf dem Campusschulhof die Runde machen." machte sie gleich einen Rückzug und fügte amüsiert an: "Und ich hab schon gehört, dass es den Weihnachtsmann wirklich gibt, und dass er ein Esper ist."

Hiroo hörte Devy gebannt zu, während sie die Gerüchteküche des Campus aufkochte. Für Hiroo war eine Bindung Jacksons zu einer Organisation ausserhalb der UnEsCo geradezu unvorstellbar. Die ansonsten eiskalt wirkende Einsatzleiterin als Spionin, eventuell noch aus einer alten Liebe heraus. Hiroo schmunzelte bei der Vorstellung in sich hinein. Es schien auf jeden Fall mehr dran zu sein an den Vorwürfen gegenüber Jackson als nur ein Machtspiel innerhalb der UnEsCo selbst. Auch wenn Devy alledem nicht viel Glauben zu schenken schien, musste sie dem nachgehen. Für einen Moment dachte Hiroo Devy in Gänze über die Geschehnisse der letzten Missionen einzuweihen, doch eine weitere Person mit im Boot war ein zu großes Wagnis. Dafür schätzte sie Devy doch zu loyal ein gegenüber der UnEsCo. Mit Jay hatte sie erlebt, welche Methoden diese Organisation einsetzt um an ihre Ziele zu gelangen. Devy dagegen war zu unschuldig dafür. Der Themenwechsel kam ihr gelegen. "Thanks... for the talk." Sie zog die Bettdecke wieder etwas hoch. Es war noch etwas früh um aufzustehen, zum Schlafen würde sie aber nur schwerlich kommen. "If you ever need an ear yourself, you can count on me."

 

Komplotte

Die Sonne stand schon wieder am westlichen Horizont. Sie hatte sich erst spät aus dem Haus schleichen können. Die Anstandsdame des Hauses war heute besonders aufgekratzt und hatte ihr irgendwelche Hausarbeiten aufgebrummt. Ein wenig ausser Atem kam sie am Platz vor dem Monument an, die Sonne ließ die Steinstatue im Zentrum des kleinen Parks einen langen Schatten werfen. Es war aber noch hell genug um Jay an einer der kleinen Wiesen vor den Treppen ausfindig zu machen. Sie bremste etwas ab und nahm einen gemütlicheren Gang an. Als würde sie sich anmerken lassen, dass sie sich versucht hat pünktlich zu sein. Sie kam auf Jay zu, ohne einen Anschein, dass er sie bemerkt hätte.

Aus dem Augenwinkel sah Jay jemanden den Plaza betreten. Er beendete die Sequenz und nahm sich einen Moment, um aus der Haltung wieder in eine normale Position zu wechseln. Dann drehte er sich um. Wie zu erwarten stand Hiroo vor ihm. Eigentlich hatte Jay darüber nachgedacht, wie er das Gespräch beginnen wollte. Aber in diesem Moment wusste er doch nicht so recht, was er sagen sollte. Irgendetwas musste allerdings her. Also stieg er vorerst mit einem simplen: "Hey, Hiroo" ein. Na großartig, dachte er bei sich, inständig hoffend, dass Hiroo ihm vielleicht eine bessere Gesprächsvorlage liefern würde.

"Hi, Jay." Sie schaute sich kurz um. "You haven't been followed, have you?" Das stumme Schütteln von Jays Kopf nahm sie als ausreichende Bestätigung hin, dass sie frei reden konnte. Ein weiteres Mal in der Eiskabine würde ihrem Teint schlecht tun. "So, what's your take on the last mission? You really think Jacksons a traitor to the UnEsCo? And if it's true, on what side are you going to stand?" Hiroo merkte wie sie ausfragender klang, als sie eigentlich wollte, doch es waren eben diese Fragen die sie sich selbst stellte. Eigentlich hatte sie keinerlei Interesse sich in diesen Konflikt einzumischen oder eine Seite zu wählen, doch über kurz oder lang hatte sie das Gefühl müsste sie sich entscheiden. Und dafür brauche sie Informationen.

Wenn Jay sich ein kleines Flüsslein gewünscht hatte, so hatte er einen Wasserfall bekommen. Einmal versichert, dass sie unbekümmert reden konnte, legte Hiroo los. Jay hatte das Gefühl, dass dies einer der seltenen Momente war, in denen sie und er gleich dachten. Es schien so zu sein, wie er vermutet hatte. Er nahm sich einen Moment Zeit, bevor er antwortete.

„I'm on no one's side, actually. The only thing I know for sure is that I've never believed in the UnEsCo. But apart from that I don't know shit. I can't tell what this woman is up to or whether she told us the truth or not. And even if she is a traitor – we don't even know which sides are in game right know, who they are, what they do.. I feel this is beyond me. And I feel like someone's playing with us. And I don't want to be fooled by those fuckers. I want to know -“

Jay atmete aus. Die Spannung, die sich während seiner Rede aufgebaut hatte, wich Stück für Stück. „I want to know the truth.“ Er schüttelte den Kopf. „I know that sounds stupid, but .. I need to know more, because I don't trust neither UnEsCo nor anyone else." Er sah ihr direkt in die Augen.  "And that's why I asked you.“

"Well, what can we do?" So viel Offenheit hatte sie nicht von Jay erwartet, hatte sie doch immer das Gefühl gehabt in ihrer Argwohn gegenüber der UnEsCo allein dazustehen. Für jemanden der sein ganzes Leben unter der Obhut der UnEsCo verbracht hat, brachte er ihr deutlich mehr Vertrauen entgegen, als sie erwartet hatte. "I've only been here for around a year and the only thing I know is, they have high security around this place. Especially around the administration. Should they even use this place for more than just a fancy training center I would bet we could get some information from below underground. But what should we look for? Jackson probably archived as little info as possible that could compromise her identity. A better chance to get some data on Jackson would be her family, both her nephew and her husband seem to have something to do with it. Regarding the UnEsCo, I'm not even sure who's in charge of this place or the organization as a whole."

"That's exactly the question", bestätigte Jay. "What can we do?" Er schaute kurz gedankenverloren ins Leere. Wie sollten sie beide viel herausfinden? Aber genau deswegen hatte er sich ja an Hiroo gewandt. Alleine wusste er nicht weiter, aber zusammen könnten sie vielleicht etwas erreichen. Wie, würden sie schon herausfinden. "I haven't been around much longer than you. Maybe we could start with getting to know who is in charge of what and who might know things. Somebody has to become the new boss. I also don't think Jackson left a lot of traces." Jay runzelte die Stirn. Sein Blick wanderte zu Hiroo zurück. "You said she is married?"

"That's as far as my knowledge goes. Devy said it's more like an urban legend. It's kinda interesting how little is known about her after all this time. Our first priority should be to target some people that could have something against Jackson. Someone like this General guy that got what he deserved for toying with Gwens abilities. If you can count on peoples ability to dig up shit of your past it's probably people like him." Hiroo dachte noch kurz nach, bevor sie ihre Gedankengänge weiter in alle Richtungen vorpreschen ließ. Jay war ebenso in Gedanken versunken über ihr gemeinsames nicht ganz legales Vorhaben, ließ Hiroo aber noch den Vortritt. "But first I guess we should act like there's nothing wrong at all. As our head of operations is missing it's possible they're thinking about seperating the rest of the body if it doesn't comply to their new set of rules. Or don't. I'm still in the mist why they're even sending us out there in this constellation."

"Well, now we know why she would guard herself like this." Jay zog die Schultern hoch. Er fröstelte in der kühlen Abendbrise, die über den Plaza zog. "I don't know if Falk would pull off something like that. But he is a pain in the ass for sure. Be glad you didn't get to know him." Während Hiroo ihren eigenen Überlegungen nachhing, durchzuckte Jay ein Gedanke. Was, wenn Falk tatsächlich etwas damit zu tun hatte? Was, wenn er Freunde bei der UnEsCo hatte? Was, wenn er ... wieder zurück käme? Sein Puls beschleunigte. Nein, dachte Jay. Das war ein absurder Gedanke. Er widmete sich wieder Hiroo, die nochmal das Wort ergriffen hatte. "Amen to that", kommentierte er. "I also wanna play nice with them, at least seemingly." Was, wenn Falk zurückkam und dafür sorgte, dass ihr Team getrennt wurde? Jay schob diese Sorge beiseite. Sei kein Idiot, herrschte er sich im Stillen an. Das würde nicht passieren. Er hob die Mundwinkel leicht an, doch eine Spur von Unsicherheit schlich sich in sein Lächeln. "I don't get their ways either. But maybe some of that was Jackson, too. Let's just start our mission carefully and smoothly and eventually we'll be able to clear some of that mist away, hm?" Er nickte Hiroo zu.

Es verging nicht viel Zeit bis sich die Sonne hinter den letzten Baumwipfeln verabschiedet hatte und die beiden sich voneinander verabschieden mussten. Jay und Hiroo hatten ihre Pläne gemacht und nun hing es davon ab wieviel Informationen sich ihnen anbieten würden in den kommenden Monaten. Sie gingen noch einen Teil des Weges zusammen in Richtung der wäldlichen Wohngemeinschaften. Nach einigen Minuten Fußweg durch die dunkelblaue Frühlingsnacht trennten sich ihre Wege. Die Ausgangssperre näherte sich langsam aber sicher.

Kurz bevor Jay den Weg zu der Hütte seiner WG einschlug, drehte er sich noch einmal zu Hiroo um. "Hey", sagte er. "Thank you for your support. I really appreciate that - I mean it."

 

Die Tage vorm Sommerfest

Das Sommerfest trug bei den Schülern und jungen Rekruten des Kansas-Campus verschiedene Namen und Konnotationen. Für viele waren die drei Tage andauernden Veranstaltungen ein regelrechter Horror und im besten Fall langweilig, während eine gleichgroße Menge sie für das Event des Jahres hielt. Eine gewisse Einigkeit herrschte vielleicht über die Startveranstaltung auf dem Stadiongelände, bei der Reden gehalten, Lieder gesungen und Rück- und Ausblicke verlesen wurden. Die Campusleitung musste eine besondere Vorliebe für statistische Daten haben, denn es genügte nicht, diese Informationen in Form einer Tabelle zur Verfügung zu stellen - irgendein armes Schwein in der Administration hatte daher jedes Jahr das Vergnügen, den Fließtext zu produzieren, der die Informationen ohne allzu viele Wortwiederholungen, und doch so trocken wie möglich wiedergab. Sogar die Medaillengewinner des Vorjahres, die noch einmal ihren Namen zu hören bekamen, schienen auf diesen Teil des Sportfests verzichten zu können - sie und viele andere waren schon bereit, aufs Neue alles zu geben. 

Devy hatte bisher immer zu der Gruppe gehört, die mit besonderer Übermotiviertheit ins Rennen ging. Solange sie auf dem Campus lebte, hatte sie in mindestens vier, oft in den maximalen fünf Kategorien mitgemacht, die ein Einzelner sich wählen konnte. In diesem Jahr schrieb sie sich allerdings nur in drei Disziplinen ein, was sie vor ihren Mitbewohnerinnen zu rechtfertigen wusste. "Da ich mich ja zur Zeit mehr auf mein Einsatztraining konzentrieren muss." Diese Ausrede entfaltete große Wirkung, und generell war die bald 18-Jährige seit dem ersten benannten Einsatz im Rang unter Ihresgleichen gestiegen. In den Tagen und Wochen nach den Ereignissen von Dallas verbreitete sich Devys "Ruhm" in Form von Gerüchten weit über das eigene Wohnheim hinaus, und das erst kürzlich zurückliegende Abenteuer hatte ihrem Ruf nicht gerade geschadet. Allzu schwer war es der jungen Rekrutin nicht gefallen, sich an die neue Stellung zu gewöhnen; wenn es zunächst auch eher unglaublich gewesen war, und das Glück, für das Devy ihre Lage hielt, kaum zu begreifen. Die Rückkehr vom letzten Einsatz hätte diesen Eindruck verstärken können, aber aus - eventuell mehreren - Gründen hatte die äußere Festigung der neuen Rolle, die "Heavy Devy" auf dem Campus einnahm, wenig Einfluss auf ihre Gedanken- und Gefühlslage, wenn das Mädchen ehrlich war. Irgendwie kam das Sommerfest wie eine erwünschte Ablenkung und Rückkehr ins Gewohnte, wenn das überhaupt noch einmal möglich war.

Devy hatte sich beim 200-Meter-Lauf, beim Weitsprung und - wie immer - in ihrer Fußballmannschaft angemeldet, die auf sie nicht hätte verzichten können. Natürlich, das muss bemerkt werden, war das Nutzen von Esperkräften in jedem Wettbewerb strengst untersagt, und das machte ganz offiziell den "Geist" des Sportfests aus: Sich"auf den gemeinsamen Nenner der Menschlichkeit zu besinnen, der uns verbindet" und "sich in Fleiß, Mut und Kameradschaft zu beweisen und zu messen". Die Kardinaltugend der Ehrlichkeit musste in der Hinsicht nicht mitgeprüft werden, dass Teilnehmende im Vorhinein mit einer passenden Dosis ihres spezifischen Esper-Censerums präperiert wurden, die sie tatsächlich auf ihre menschlichen Kräfte reduzierte. Devy konnte sich an kein Jahr erinnern, in dem ihre besten Freundinnen sich nicht über diese Regelung beschwerten - "wozu dann überhaupt das ganze Espertraining", und "als ob wir uns wie Ordinaries behandeln lassen müssten"- aber einige Sätze der Einführungsrede wirkten solchen Gedanken effektiv entgegen. "Als der auserwählte Teil der Menschheit, für den ich uns immer gehalten habe." erklärte Lieutenant General Nyquist gerne "gilt für uns, dass wir uns auf doppelte Weise unserem Stand gerecht werden müssen: Ja, wir stehen in der Verantwortung, unsere Esperfähigkeiten zum Guten aller zu trainieren und auszunutzen, aber das kann uns nie gelingen, wenn wir nicht in allen Disziplinen des Lebens mit den Besten unserer Brüder und Schwestern in Menschlichkeit mithalten können. Kurz: Excel in humanity, transcend barbarity!" Was davon in den Köpfen des Publikums ankam - bei vielen war der Begriff "Zuhörer" schon fehl am Platz, bei anderen verschärfte sich weniger der Eindruck, mit dem Homo Sapiens Sapiens auf einer Stufe zu stehen, als die Idee, mit diesem nicht einmal verwandt zu sein.

Es waren aber nicht nur die ganz besonders Begabten - die, die das ganze Jahr über mit ihren Esperkräften Eindruck bei anderen Jungrekruten machen konnten - die sich vom "Geist des Sportfestes" anstecken ließen. Es war sicherlich so beabsichtigt, dass gerade die, deren Kräfte wenig ausgeprägt oder schlichtweg nicht wettbewerbsrelevant erschienen, nun auch eine faire Chance auf Ruhm bekamen. Das mussten weder Nyquist noch ihr Kollege Lieutenant Han in ihren Ansprachen erläutern - es hatte eine gewisse wortlose Wirkung. Völlig gegenteilig sah es mit dem Verbot der Sportwetten aus, das mit jeder Erwähnung weniger ernstnehmbar wurde - und besonders mit jeder Warnung, "das könne zum Ausschluss von Wettbewerbsteilnahme führen". Für die Gruppe derer, die sich auf keinem Weg zu sportlichem Ehrgeiz hinreißen ließen, klang das wie eine Motivationsrede ganz anderer Art.

Trotz aller Erfahrungen, die Devy in den letzten Monaten mit ihrer Zimmergenossin gemacht hatte, kam Hiroos "präventive Disqualifizierung" für sie doch überraschend. Virginia teilte es ihr während einem der Extra-Trainings mit, die die Woche vor dem Festwochenende stets füllten. "Warte, Hiroo darf an keiner einzigen Disziplin teilnehmen? Und das steht schon fest? Wieso? Woher weißt du das?" rutschte es dem Mädchen raus, ehe sie recht darüber nachdenken konnte. "Ach komm, so aus dem Nichts kommt das wirklich nicht."  Dem musste Devy schon rechtgeben, und auch der Rest der Antwort war eigentlich erwartbar - Virginias Esper bestand schließlich in einer Superfunktion des Arbeitsgedächtnisses, die sie gerne mit ihrem Hobby, Sgt. Hofmann über die Schulter zu blicken, verband. Ein Blick reichte, um eine kurz geöffnete Mail an die Hausleiterin zu überfliegen. Devy schaltete meist weniger schnell. "Ach so." meinte sie jetzt verlegen. "Das war ja klar. Tut mir Leid, ich dachte einfach... komisch, dass ich es noch nicht wusste." "Falls es dich tröstet, ich glaube, deine Zimmerkollegin weiß auch noch nichts von ihrem Glück." kam mit freundlichem, aber eindeutigen Spott zurück. "Vielleicht willst du es ihr ja heute Abend mitteilen. Falls sie nicht wieder nach Ausgehschluss mit ihren komischen Freunden unterwegs ist." Virginia entging wirklich nichts. Nicht zum ersten Mal kam sich Devy ihr gegenüber unsicher und wehrlos vor, aber dieser eine Gedanke war ihr vielleicht noch nie so untergekommen wie jetzt: "Wie freue ich mich auf einen Nachmittag, an dem Gins Esper aus dem Spiel ist." Es war kein Wunder, dass sich die Geister schieden, wenn es ums Sommerfest ging. Obwohl es traditionell einfach dazu gehörte und sich hier alle wahnsinnigen Seiten des Campuslebens besonders hervortaten, erschien die durchstrukturierte Welt der Rekruten an diesen Tagen doch immer wie auf den Kopf gestellt. 

***

Devy kam an diesem Mittwochabend, zwei Tage vor dem Startschuss, erst eine Viertelstunde vor der Abendbrotzeit nach Hause. Die meisten aus der Wohngruppe trudelten erst um diese Zeit ein, nachdem sie den Tag lang mit intensiven Trainings- und außerordentlichen Lästersessions verbracht hatten. Obwohl alle Mädels müde wirkten, war mit jeder neu Dazukommenden ein frischer Stoß Vorfreude und Begeisterung zu verspüren. Die Küchendienste wurden ausnahmsweise gemeinsam übernommen, wobei natürlich niemand fehlen durfte, aus Pflicht nicht, und auch, um die Gerüchteküche nicht zu verpassen, die brodelte. "Ich glaub sie sind jetzt ein Paar!" Gekicher verbreitete sich unter den jüngeren Mitbewohnerinnen. Sogar Virginia konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Devy runzelte bloß die Stirn. Dating war den unter 18-Jährigen verboten, verständlicherweise, wie die 17-Jährige fand, und die Schande, bei solch blödsinnigem Zeitvertreib erwischt zu werden, wagte sie sich kaum auszumalen.

Die allgemeine gute Laune zu verderben, daran lag es ihr gerade nicht. Vielleicht hätte Devy sogar in der Stimmung aufgehen können, wenn sie nicht von Hiroos Disqualifikation gewusst hätte. Seit Stunden war es dem Mädchen durch den Kopf gegangen, wie sie es ihrer Mitbewohnerin schonend beibringen konnte. Und dann waren Virginia und Devy zur Tür hereingekommen - wo Vela gestanden und nur auf sie gewartet hatte. Mit noch duschnassen Haaren, um mit der Neuigkeit herauszuplatzen: "Sgt. hat Hiroo gerade aufs Büro zitiert!" Offensichtlich war sie informiert und hatte ihre helle Schadenfreude daran, die Nachricht zu verbreiten, die unter den Mädels in Hiroos Abwesenheit in aller Munde war- für fünf Minuten, bis das Thema über die typischen Trainingsangebereien hin zu geheimen Liebschaften wechselte. Jede Minute in der Zwischenzeit war lang, und es verging nun diese Viertelstunde, in der man von oben nichts Neues hörte. Den Knall der Tür schien dann zunächst auch nur Devy wahrzunehmen - dann erspürte sie Hiroos Schritte; und schon kam Devys Zimmergenossin die Treppe heruntergepoltert. 

"Fucking hell." - Fluchend stampfte Hiroo die Treppe aus dem ersten Obergeschoss herunter. Die Wut und etwas Enttäuschung standen ihr ins Gesicht geschrieben, während sie Blicke mit der kurz ruhiger gewordenen versammelten Mädchentruppe austauschte. Sie wollte nicht Thema des Abends werden, also schluckte sie das bisschen Enttäuschung das man ihr ansehen hätte können herunter und zeigte wieder ihre bekannte steinerne Mine. Sie schritt ohne Worte an Virgina und Devy vorbei. Bevor sie auch nur eine weitere Minute ihres Abends in dieser Klatsch-verseuchten Atmosphäre verbringen würde, würde sie sich mit ein paar Snacks aus dem Kühlschrank auf ihr Zimmer verziehen. Doch bevor sie am Kühlschrank ankommen konnte, schob sich Vela an einigen der jüngeren Mädchen vorbei, in deren Mitte sie bisher Chefkoch der neusten Gerüchteküche spielte. "So, what have you been up to today? We were just wondering how your days been. Didn't we, girls?" Einstimmiges Nicken kam aus ihrem Kreise. "Nothing, just heading to my room.", erwiderte Hiroo trocken. "Are you sure? How're your preperations for the tournament going? I hope everything's going well." - 'What does she know...?', schoss es Hiroo durch den Kopf. "Shut your trap." - "Oh, already so vulgar. So typical. They still haven't taught you any manners. It would be a waste of time anyway. Just like your training." - "Are you trying to fuck with me? Just back off." - "What do you mean? We're just talking here. You should join us, we're having a splendid time here and you're the only one missing out." - Ein aufgesetztes freundliches Lächeln zauberte sich auf Hiroos Gesicht. Nicht merkbar für Vela, deren fadenscheinige Freundlichkeit niemanden außer ihresgleichen hätte täuschen können. "Well, if you mean it, I could show you." Eine kurze Spur von Verwirrung stand in Velas Gesicht geschrieben. "Show me what?" - Eine nachdenkliche Mine zierte Hiroos Gesicht. "I think your comprehension lacks a bit of fine tuning. Almost like there's a verbal gap between us, that I just can't seem to fill with some simple words. I think a practical presentation should suffice." Bevor Hiroo diesen Satz zuende sprach, umschloss ihre rechte Hand bereits das Handgelenk von Vela. In einer Bewegung fuhr Hiroo fort und zog Vela in einer halben Pirouette herum. Erst ein sachter Tritt von Hiroo gegen ihr rechtes Knie stoppte die Drehung abrupt. Velas Körper plumpste zusammen und wurde erst vom hölzernen Boden und dem dünnen Teppich des Aufenthaltraums abgefedert. Velas Kopf drehte sich noch immer, erkannte aber gerade wieder Hiroo die auf sie kopfüber herunterblickte. "I'm just not in the mood today. Got it?" Hiroo setzte ihren Weg fort. Die kleine Traube, die sich um die beiden Mädchen gebildet hatte, rückte etwas ab.

Das hatte Devy nicht erwartet. Schon seit einiger Zeit war es zwischen den Erzfeindinnen im Haus 11 nicht mehr zur nennenswerten Reibereien gekommen - aber die allgemein zugespitzte Stimmung vor dem Sportfest hatte wohl ihren Beitrag zu einem Comeback geleistet. Nun lag Vela auf dem Boden, und mehrere Mitbewohnerinnen umringten sie wieder, um ihr aufzuhelfen. Devy hätte vielleicht instinktiv dasselbe getan, aber dafür stand sie ohnehin zu sehr abseits in diesem Moment, und im nächsten war ihr nicht mehr danach. Sie folgte aus den Augenwinkeln Hiroos nächsten Schritten in Richtung Kühlschrank, wie sie fast seelenruhig die Tür öffnete und sich ihr Abendessen zusammenzusuchen begann. Wenn die Eigensinnige nur einmal herübergesehen hätte, dann hätte sie Devys verzweifelte Mimik und Gestik vielleicht wahrnehmen können, aber selbst dann hätte sie sich wohl nicht bei ihrem Vorhaben stören lassen. Auffälliger konnte Devy auch gar nicht werden, fand sie, um nicht mit diesen Strudel gezogen zu werden - zumal schon nach Sgt. Hoffmann gerufen wurde, als habe die von dem ganzen Tumult nichts mitbekommen haben können. Wenigstens keine weiteren Handgreiflichkeiten, nur bitterböse, racheschwörende Blicke - die da von der Seite der Mädels auf Hiroo gerichtet wurden. Nein, jetzt, als man die Hausleiterin die Treppe heruntersteigen hörte und zwei ihr entgegenliefen, war sicher nicht die Zeit. Aber Devy würde ihre Zimmergenossin noch zur Rede stellen - wenn nicht vor, so doch irgendwann während oder nach dem Sportfest. In dem Augenblick kam das Devy wichtiger vor als eine neue Medaille.

 

<3

Als die erste Ankündigung Jay daran erinnerte, dass das Sportfest wieder vor der Tür stand, war sein erster Gedanke gewesen: So ein Scheiß. Doch je länger er darüber nachgedacht hatte, desto mehr hatte ihn tatsächlich ein gewisser Enthusiasmus gepackt. Hätte Jay ebendiesen nicht wohl gehütet, so hätten sich manche Leute wahrscheinlich sehr über seinen plötzlichen Sinneswandel gewundert. Doch es gab zwei gute Gründe, warum das Event dem jungen Mann insgeheim sehr gelegen kam. Der erste waren die Medikamente. Trotz einiger leichter, aber vernachlässigbarer Nebenwirkungen freute sich Jay darauf, für drei Tage einfach mal normal zu sein. Es war schon ein wenig enttäuschend für ihn, dass er seine Kräfte nicht für immer loswerden konnte. Aber wenn er diesen Wunsch wenigstens für eine kurze Zeit erfüllt bekam, war das wie ein kleines Weihnachtsgeschenk mitten im Sommer. Jemand anderes hätte es vermutlich grausam gefunden, nur mit einem Vorgeschmack abgespeist zu werden. Doch Jay fand sich damit ab, dass er diesen Zustand zumindest für drei volle Tage auskosten durfte.

Der zweite Grund entstammte den angehenden Planänderungen. Seit Jacksons Festnahme bahnten sich Umschünge an, die Jay tierisch ankotzten. Dass sein Training mit Jordan in letzter Zeit gekürzt worden war und über kurz oder lang zu einem Ende kommen sollte, hatte ihn aus der Kalten erwischt und mehr getroffen, als er gedacht hätte. Seitdem sein Trainer ihm das in einem Gespräch unter vier Augen mitgeteilt hatte, hatte Jay sein Training intensiviert. Jordan hatte ihm erzählt, dass es bald einen Leistungstest geben würde, der analysierte, welche Fortschritte Jay gemacht hatte. Zuerst hatte der junge Esper aus einer Trotzreaktion heraus geplant, so schlecht wie möglich abzuschneiden. Doch je länger Jay über seine Situation nachgedacht hatte, desto klarer war ihm geworden: Wer auch immer so eine Entscheidung getroffen hatte – er würde sie vermutlich nicht so einfach rückgängig machen. Seine anstehende Versetzung zu den älteren Rekruten schien unvermeidbar. Und so frustrierend das für ihn war, so konnte er in dieser Lage immerhin eines tun: Er konnte zeigen, wie weit er es unter Jordans Anleitung gebracht hatte. Und so konnte er sich auf diese Weise indirekt für all das erkenntlich zeigen, was sein Betreuer für ihn getan hatte. Das war der eigentliche Grund dafür, dass Jay in diesem Sommer so motiviert war wie noch nie.

In der Woche vor dem Sportfest fanden keine regulären Kurse statt. Anstelle des üblichen Plans trat freies Training, das Jay ebenso fleißig nutzte, wie die meisten anderen jungen Campus-Bewohner. Er hatte sich für die zwei offensichtlichen Kategorien eingetragen: Schwimmen und das Mixed-Martial-Arts-Turnier. Bei erster Kategorie rechnete er sich keine hohen Chancen aus. Er hatte sich im Kurs nie wirklich angestrengt und diesen eher als Entspannung gesehen. Doch in den letzten Wochen hatte er sich ein wenig mehr ins Zeug gelegt und seine Beobachtungen verschafften dem jungen Mann das Gefühl, zumindest mit ein paar Kontrahenten mithalten zu können. Viel wichtiger war jedoch das Turnier am zweiten Tag des Sportfestes. Denn hier hatte sich Jay vorgenommen, auf jeden Fall zu gewinnen. Das würde zwar nicht einfach werden, doch die Tatsache, dass Jordan ihn als einen der Besten seiner Altersklasse einschätzte, machte ihn zuversichtlich. Außerdem würde der ein oder andere Gegner den Fehler machen, ihn zu unterschätzen. Es war kein Geheimnis, dass der stille Typ mit den langen Haaren keine große Motivation besaß und im letzten Jahr grandios den letzten Platz seiner einzigen Kategorie belegt hatte. Jay hatte diese Annahme fleißig mitgefüttert. Er war selbst überrascht, wie sehr er sich jetzt darauf freute, ein paar ahnungslosen „Elites“ gehörig in den Arsch zu treten.

Während die Abendsonne auf den Campus herunterbrannte, machte der junge Esper sich zu seinem Injektionstermin auf. Es war wie immer bei der UnEsCo – alles nahezu perfekt durchgetaktet. Das Training für diesen Tag musste Jay ab jetzt beenden. Denn sobald die Wirkung des Censerums einsetzte, hatte er sich aufgrund eventuell auftretender Nebenwirkungen in sein Wohnheim zurückzuziehen. Im letzten Jahr hatten sich diese zwar in Grenzen gehalten, doch Ärzte waren Ärzte und deshalb immer besonders vorsichtig.

Als Jay nach den Rekruten Mang und Marquez die Krankenstation verließ, fühlte er sich seltsam. Es war, als ob im gesamten Gebäude der Strom ausgefallen wäre. Das fühlte sich befreiend an und zugleich so unwirklich. Jay überkam eine Welle an Emotionen, die er nicht zuordnen konnte. Und während er durch den Park zu seiner WG wanderte, schienen seine Sinne immer schärfer zu werden. Das Licht, das durch die Baumkronen fiel, kam ihm heller vor, das Zwitschern der Vögel und seine auf dem Pfad dahinknirschenden Schritte lauter und der leichte, warme Windhauch intensiver. Jays Herz machte einen Hüpfer. Diese Tage würde wunderbar werden. Leichten Schrittes bog er in den Weg in Richtung der Waldhütten ein. Hiroo, die an der nächsten Gabelung auf ihn wartete, leuchtete ihm schon von Weitem entgegen.

„Wow, you're a true competition to the sun today, you know that, little star?“, begrüßte er sie.

Für diesen einen Moment war es ihr unmöglich ein kurzes Lächeln zu unterdrücken. Nach dem gestrigen Abend, hätte sie dem ganzen UnEsCo Campus die Pest an den Hals gewünscht. Doch mit Jay hatte sie endlich wieder ein freundliches Gesicht erblickt, das ihren ansonsten miserablen Tag nur aufwerten konnte. Selbst Devy, zu der sie sonst eigentlich ein sehr offenes Verhältnis pflegte, hatte sich nach ihrer gestrigen Aktion von ihr abgekapselt. Besser für Devy, es brachte nichts sie auch noch in ihre persönliche Fede mit dem gesamten Campus einzuspannen. Hiroo schaute sich kurz um und konnte keine Menschenseele erblicken. An diesem späten Julitag hatten sich die meisten bereits frühzeitig in ihre Wohnhäuser zurückgezogen. Eigentlich hatten Jay und Hiroo bis zu ihrer anstehenden Revanche beim Turnier keine weiteren Treffen verabredet, doch bei irgendwem musste sie ihre angefressene Frustation auslassen. Das gestrige Debakel hatte nichts weiter als eine weitere Kette an Problemen mit der Obrigkeit eingefordert. Die kurze Genugtuung Vela zu Boden gebracht zu haben, konnte ihren Frust über den Ausschluss am Turnier nicht abkühlen.

Ohne Worte packte Hiroo Jay am Arm. "Hey, what are you - Uh, I guess you'll explain later." Kurz keimten Widerworte seitens Jay auf, die er jedoch ohne eine Antwort von Hiroo verstummen ließ. Sie zog ihn eine kurze Weile einen der kleinen Waldwege entlang, von seinem Nachhauseweg ab auf eine leerstehende Lichtung, die ansonsten für Entspannungsübungen genutzt wurde. "So, what's up?" Jay sprach zuerst die Frage auf die Antwort aus, die Hiroo gerade versuchte mit Inhalt zu füllen. "Me? I'm just burning all the bridges behind me. The UnEsCo suddenly felt the need to take the last bright spot of this campus from me... They banned me from competing at the tournament." In einem sarkastisch klingenden Ton erwiderte sie seine Frage. "And what are you up to?" Jays freundlicher Ton hatte eine Kerbe bei ihr erwischt, und sie zeigte eine Seite, die sie im gleichen Moment wieder bereute.

Darauf war Jay nicht vorbereitet gewesen. Er brauchte einen kurzen Moment, um zu verarbeiten, was Hiroo ihm da gerade offenbart hatte. "Wait - they did what?!" Die Überraschung stand Jay ins Gesicht geschrieben, gepaart mit Verwirrung. "But .. why? What happened?" Er konnte es nicht fassen. Doch Hiroo stand vor ihm und hatte eben diese Dinge alle wirklich gesagt, während ihr die Röte ins Gesicht schoss.

"I'm not sure. It's not like we hit an alarm while looking for some info on Jacksons past. And the reason they handed me isn't even worth speculating over. Just some random accusation about me trying to sabotage the tournament... Arrgh..." Ein dumpfer Wutschrei unterstreichte ihre Ratlosigkeit. Mit ihren Händen wuschelte sie durch ihre Haare. Sie hatte sich Jays Frage bereits die gesamte letzte Nacht durch den Kopf laufen lassen und konnte kein Indiz in ihrem Verhalten oder den Gesprächen zwischen ihr und Sgt. Hoffmann oder Satoshi erkennen, das auf einen Ausschluss am Turnier hinweisen könnte. "Why would Satoshi do this to me? Acting like nothing's wrong and suddenly I'm the bad guy. Doing all these extra chores for weeks. All for nothing. Damnit..." Hiroo ließ sich im Schneidersitz ins hohe Gras fallen.

"Those fuckers!" Hiroo klang aufrichtig frustriert und das tat Jay leid. "That doesn't make any sense", überlegte er. "If they found out anything, they would have noticed I'm in this too. So why punish you and not me?" Zorn keimte in Jay auf, wurde aber schnell von einem anderen Gefühl überschattet, als er etwas realisierte. "Oh crap." Er ließ sich neben Hiroo ins Gras sinken. Die Erde war im Kontrast zu den weichen Halmen starr und trocken. Jay starrte ins Leere. "I'm sorry. I shouldn't have dragged you into this."

"My decisions are nothing you have to worry about. It's not like you dragged me into this yourself. Believe me, I'm proficient enough at digging my own holes." Ihre ernste Antwort nahm langsam einen etwas leichteren Ton an. "I feel like it's the first time I had something like a goal, aside from simply overcoming the obsctacles life throws at you. Although I don't have a hunch what this goal has in for us."

Jay wandte den Blick wieder Hiroo zu. Seine Augen fixierten die teilweise orange gefärbten Strähnen ihres Haares und blieben daran hängen. Es schien, als ob sie glühten. "You know -", begann er. "I've never really had a goal in life too. To me - I still don't know if I have one. Feels more like a weird direction. But anyway." Jay lehnte sich zurück und schloss die Augen. Langsam sank er ins Gras, während vor seinen Lidern Lichtpunkte tanzten. "You are right. You can perfectly take care of yourself and I don't wanna tell you what to do or not. It just came to my mind a moment ago that we are ... on shaky ground. I don't know how far the UnEsCo is willing to go to keep us in line. Also I weirdly don't feel afraid. But we are in their damn hands." Jay richtete sich wieder ein wenig auf, stützte sich auf die Ellbogen und sah Hiroo wieder an. "I can tell you at least a notion of what this goal might have in for us."

"The more I know the better, I guess." In ihrer Ratlosigkeit über ihre eigene Situation war jeder noch so kleine Hinweis etwas an dem sie sich festhalten konnte. "Always nice getting something fresh on the table, even if it's just an appetiser."

"Well, I'll let you have a fair share." Jay seufzte. "Lately I've tried to get a bit of insight from Jordan. He is not the most informed person on the campus, but he told me an interesting fact." Er hielt kurz inne, um abzurufen, was genau sein Trainer ihm erzählt hatte. "Jackson seems to be part of a super important Esper family. Not enough he said she had signed some kind of contract to get extra rights, power, control - whatever. But lately she broke it, or so he meant." Jay setzte sich auf. "So, we have at least three factions meddling with all of this. First of all the great UnEsCo itself. Jackson seems to support some other idea, at least to some extend. Then we have this other organisation that uses Espers - maybe this doctor and the girl from the sanatorium belong to them. And then there was this janitor guy, who did not work with them or anyone else, as far as we know. But hell, it still looks like we've uncovered nothing." Er machte eine kurze Pause. "Oh, and I am transferring to the military recruits this summer, as a matter of fact", fügte er hinzu.

Hiroo hörte Jay aufmerksam zu, während er das wenige, das Jordan ihm anvertraut hatte, weiter an sie gab. Von Satoshi hatte sie in der Richtung nichts erfahren. Er hatte es aber auch in sich, ihre Fragen immer wieder ins Leere laufen zu lassen. Ähnlich ihrer etwas rabiateren Angriffe gegen ihn im Training. Dies lag auch darin begründet, dass ihrer beiden Beziehung zueinander nicht viel mehr als der eines Schülers zu seinem Meister beinhaltete. In dieser Hinsicht war Jay beneidenswert. Die Distanz zwischen dem was Satoshi vorgab und dem was sie über seine Rolle am Campus glauben konnte, erübrigten den Rest. Mit dem Kopf hatte sie es ihm gleich getan und hatte es sich im Schneidersitz mit dem Rücken auf dem Gras gemütlich gemacht. Diese drei Fraktionen von denen er einen Zusammenhang zu den Geschehnissen hier auf dem Campus schlussfolgerte, wie genau waren sie hier eventuell bereits im Campus-Komplex vertreten? Wer von den Lehrern und Leitenden gehörte insgeheim vielleicht schon einer dieser anderen Gruppierungen an? Was waren überhaupt deren Ziele? In der Zeit seit Jacksons Abwesenheit hatte sich oberflächlich wenig am Campus getan. Selbst am Alltag hatte sich bis auf ihren Ausschluss an Außenmissionen ihrem Empfinden nach nicht viel geändert.

"You're doing what now?",  sprudelte es aus ihr heraus als sie Jays letzten Satz vernahm. In abwehrender Reaktion sprang ihr Oberkörper nach oben und schaute Jay mit von Fragen durchlöcherten Augen an. Das konnte doch nicht sein verdammter Ernst sein.

"Wow, hold it for a sec, ok?" Jay hob beschwichtigend die Hände, ließ sie dann aber wieder in den Schoß fallen. "It's not like I'm choosing to." Er wandte den Blick zur Seite. "That's what I meant earlier. They can do whatever they want with us."

"You're right, but... why so suddenly. Do you know anything at all about these troups?" Sie hielt kurz inne und ließ die Gedanken wie Kometenschweife durch ihre Synapsen ziehen. Würde das ein unverhofftes Ende für die kleine Truppe bedeuten? "What about Jordan? Whats's his take on the matter? Is this the end for you two? I mean... you had something I could never have with my sensei."

"I don't know, I don't -" Jay brach ab. Er schüttelte den Kopf. "I could try to find reasons why, but I don't know anything for sure. I just know they'll have me yessir the crap out of everything, follow some silly daily routine and sleep in a group cell." Je mehr er sagte, desto stärker wurde Jay bewusst, dass Hiroos Fragen sein Inneres aufwühlten. Die Kontrolle in ihm fing an zu bröckeln. Er wich ihrem Blick weiter aus. "Of course it's over. He's not too happy about it, so am I." Ein leichtes Flattern schlich sich in seinen bis dahin so sorgsam gewahrten, neutralen Ton. Bevor seine Stimme endgültig brüchig werden konnte, zog Jay einen Schlussstrich. Er atmete einmal ein und wieder aus. Dann drehte sich er sich unvermittelt zu Hiroo um. Seine Stimme trug nun wieder den leichten Hauch von Sarkasmus, absurderweise gepaart mit Ernst. "Well, let's use these days of happiness that are ahead of us. I intend to make the most of them and we'll find a way to get something out of them for you too."

Die Art wie Jay mit dieser Situation umging beruhigte sie wieder etwas. Der Jay, den sie kannte, würde sich so schnell nicht unterkriegen lassen. So viel hatte sie von ihm in dem letzten Jahr doch von ihm gelernt. "The worst of all, I'm not even allowed to attend the tournament as a silent observer. So I can't cheer you up when you're fighting against Makeda. Oh, and you have to cheer in my stead when Gwen and Exit enter the the ring. Doubletimes." Etwas Wehmut klang trotz ihrer positiven Stimmung durch. "Damn, would've been fun watching you guys." Sie legte sich wieder verträumt ins hohe Gras und ließ die Sonnenstrahlen durch ihre Augenlider blitzen. Sie mussten mit dem was sie noch an Zeit hatten, das meiste herausholen. "As far as I know I'm going to stay suspended at the HQ. I bet they couldn't think of a more boring place to stay with all these kusomajime running around."

"Ah, dang. It's a shame, really. And you know, this one time I was in for the fight." Jay streckte sich und genoss für einen Moment die warmen Sonnenstrahlen, die auf ihn herabschienen. Dann betrachtete er Hiroo, die es sich im Gras gemütlich gemacht hatte. Ihre helle Haut flimmerte leicht, während das Feuer ihrer Strähnen sich immer noch leuchtend von der kohlschwarzen Farbe ihres restlichen Haares abhob. Es tat ihm fast in den Augen weh, doch Jay konnte nicht wegsehen.                                                                                                "I guess you'll be watched though, huh? Otherwise I would have suggested to smuggle you in somehow. But we're talking about UnEsCo." Er zuckte mit den Schultern. "So, you know this Makeda guy? Jordan told me he's also one of Satoshi's students and was last year's winner."

"Yeah, I know her." Den letzten Teil betonte sie dabei etwas stärker und grinste ihn etwas schelmisch an. Sie wusste selbst nicht, dass Makeda beim letzten Jahr als Sieger aus dem Turnier gegangen war. Dies war aber nicht sonderlich überraschend, war sie doch die älteste und erfahrenste Schülerin von Satoshi. Mit ihrem eindringlichen Capoeira-Kampfstil und ihrer körperlichen Überlegenheit hatte sie es mehr als einmal geschafft Hiroos Defensive zu Fall zu bringen. "If it's your turn to fight against her, you better start getting your wits together."

"Oh. I didn't really get Makeda was a girl." Da hatte er wohl eine Information falsch einsortiert. Jay nahm sich vor, den Turnierbaum noch einmal durchzugehen, um weitere eventuelle Verwechslungen zu vermeiden. Namen waren irgendwie nicht so seine Stärke. "But that doesn't matter for the fight. I intend to win this bloody tournament, no matter who I'm gonna face." Jay ließ sich zu einem grimmigen Lächeln hinreißen. "I haven't been lazy in the last months. You will get to see that sooner or later."

"I know it's not much, but if you really wanna win this one: Try attacking her left side. Her strength in Capoeira is the constant flow and rhythm of her moves. While she's pretty strong in both of her legs, her right one always wants to go a little faster." So leicht wollte sie es ihm doch nicht machen, und auch wenn sie zu Makeda nicht das herzlichste  Verhältnis pflegte, verbot ihre Ehre als Kämpferin ihm gleich alle Geheimnisse über ihren Kampfstil zu verraten. "Just focus on your goal. I really think you can do it. And don't waste your thoughts on me. I'm going to be fine. Maybe I can even get some info while staying at the HQ for three whole days."

"I appreciate your help, but you don't have to tell me too much. I'll have to win this on my own." Jay wusste, dass Makeda das Turnier im letzten Jahr nicht umsonst gewonnen hatte. Doch er war zuversichtlich, dass er sie besiegen konnte. Dass Hiroo das offenbar auch dachte, bestärkte ihn in seiner Annahme. "I will do that for sure. And actually your idea sounds quite good." 'I hope you don't get yourself into more trouble though', dachte er, sagte das aber nicht laut. In der letzten Zeit war Hiroo ja immerhin ziemlich vorsichtig gewesen.

Sie atmete langsam und sichtlich beruhigt nach alle dem aus. Sie hatte das Gefühl endlich mal wieder alles was ihr auf dem Herzen lag gesagt zu haben. "Let's change the subject. Just once for today I want to think about something else than the tournament." Sie schaute sich entspannt um. Die Baumwipfel wurden von einer warmen Sommerbrise aufgebauscht. Die Sonne ging langsam in ihr leuchtendes Finale über. Ihre Haare flogen vom Winde verweht auf. Aus dem Augenwinkel konnte sie Jays Blick erhaschen. War Jay sonst schon immer so fixiert auf ihre Haare gewesen? Irgendwas war komisch an ihm. Sie drehte eine ihrer orange-schwarzen Strähnen mit einem Finger zu einer Locke auf. "You wanna touch it? Or is there something in my face?" Sie schaute ihn direkt an, eine Augenbraue fragend nach oben gezogen.

'Well, shit.' Jay fühlte sich ein wenig ertappt. Da hatte er schon das Gefühl gehabt, dass seine Wahrnehmung erweitert war und trotzdem war er unaufmerksam gewesen. "No, no. Your face looks great. I ... -" Na toll. Hiroos Direktheit hatte ihn erwischt und jetzt wusste er nicht, was er darauf sagen sollte. Er spürte die Wärme in sein Gesicht strömen, während seine Gedanken rasten, um eine vernünftige Antwort hervorzubringen. Aber natürlich fand er keine. Um der peinlichen Stille zu entgehen, entschied er sich für die Wahrheit: "I know that sounds extremely stupid, but .. it's .. fascinating? It looks like your hair is burning. I get that it's not actually burning. The drugs are probably doing their part, but still." Jay verstummte. Nach dieser "Erklärung" fühlte er sich nicht wirklich besser. Nervös sah er Hiroo an und versuchte, ihren Blick zu deuten.

Hiroo rutschte etwas näher an ihn heran. "Is it only the drugs? 'Cause I haven't had any and I feel a burning inside, too." Sie wartete ab, was Jay tun würde. Er war sehr viel offener als sonst, aber ob das eventuell nur an den Nebenwirkungen lag?

Hiroos Antwort verwirrte ihn zuerst. Doch als Jay ihr in die Augen sah, wurde ihm plötzlich klar, was sie meinte. Ein Kribbeln breitete sich in seiner Magengegend aus. Waren es die Medikamente oder war da noch etwas anderes? Ein Teil von ihm wollte sich zurückziehen, um sich zu sortieren und erst einmal in Ruhe darüber nachzudenken. Aber er konnte sich Hiroos Blick nicht entziehen. Sie schien Jay herauszufordern und eine Regung in ihm drängte ihn, dem Impuls nachzugeben. So schob er alle Gedanken beiseite. Hiroos Blick erwidernd, sagte er leise: "I don't know. But .. I am curious to find out."

Die Sonne hatte ihren Horizont erreicht. Die Kühle der anbrechenden Sommernacht machte sich ohne die warmen Sonnenstrahlen langsam bemerkbar. Im ersten Moment hatte sie erwartet, dass er zurückweichen würde. Doch zu ihrer Überraschung erwiderte er ihren Blick, ohne abzulenken. Sie nahm Jays Hand. Eine Wärme durchzog ihre linke Hand und breitete sich aus. Trotz der dämmernden Dunkelheit konnte sie das Leuchten in seinen Augen sehen. Selbst sitzend musste sie dabei etwas zu ihm hoch schauen. Sie schaute kurz etwas verlegen ab, rückte dabei aber weiter zu ihm hin, sodass sich ihre Knie seitlich berührten. Ihr Gesicht nun ganz nah an dem seinen. Die Wärme, die sich von ihren umschlungenen Fingern ausbreitete, war bis in ihre Haarspitzen vorgedrungen.

Vielleicht lag es auch ein wenig an der kühlen Abendluft, dass Jay eine Gänsehaut bekam. Es waren jedoch die Berührungen von Hiroo, die sanfte Schauer durch seinen Körper jagten. Ganz leicht erwiderte er den Druck ihrer Hand. Mit der anderen fasste er eine ihrer Haarsträhnen, die sich mittlerweile von dem bisher feurigen Glühen in ein tiefes Pinkrot verfärbten. Kurz glitt sein Blick zu dem Farbenspiel, dann wieder zurück zu Hiroos Augen. Langsam beugte Jay sich zu ihr hin.

Jays Lippen kamen näher. So nah, dass jeder andere Gedanke nebensächlich wurde. Ihr Mund öffnete sich nur kurz um ihre von der Wärme getrockneten Lippen anzufeuchten. Ihr rechter Arm umklammerte seinen muskulösen Oberkörper und zog ihn zu sich. Kurz biss sie sich auf die Lippen. Sollte sie das wirklich tun? 'No backing down now!', machte sie sich Mut. Sie schloss ihre Augen und führte ihre Lippen zu denen von Jay. Der Moment in dem ihre die seinen berührten löste einen wohligen Schauer aus. Gleichzeitig breitete sich in ihr ein Konflikt aus zwischen der kühlen Brise, die aus einer unendlich schwarzen Leere in ihr hervorzukommen schien und dem warmen Puls der von Jay ausging, den sie zu immitieren versuchte. Für einen Moment breiteten sich Eiskristalle an der Stelle aus, an der sich ihre Lippen berührten. Ein kurzer Augenblick, bevor sich Hiroo wieder fing. 'Not this again...', strengte sie sich an und begann die Wärme wieder in beide Richtungen fließen zu lassen. Erst von der Berührung mit Jay ausgehend bis hin zu ihrer Brust und dann durch ihren ganzen Körper fühlte sie eine Symbiose mit der Wärme die von ihm ausging.

Jay senkte die Lider und ließ sich von Hiroo mitnehmen. Als seine Lippen auf ihre trafen, fuhr ein Beben durch seinen Körper. Hitze durchströmte ihn. Nach einem kurzen, kalten Hauch, der ihn frösteln ließ, wallte sie ihm von Hiroo wieder entgegen und vereinte sich zu einem einzigen Puls. Jay ließ seine Finger über ihre Wange gleiten und sank tiefer in ihre Umarmung. In diesem Moment gab es nur noch Hiroo und seinen brennenden Wunsch, ihre Nähe zu spüren.

Die Zeit fühlte sich so unwirklich an. Wieviel Stunden waren vergangen? Ihr Körper fühlte sich von wohliger Wärme umgeben. Sie redeten. So offen, wie sie es zuvor nur selten getan hatten, während sich aus der dunkelblauen Schwärze heraus langsam die Sterne über das Himmelszelt ausbreiteten. Am Horizont kam währenddessen auch der hell leuchtende Vollmond hervor. Nach einer Weile schaute Hiroo auf die Uhr. Wenn sie zu spät in der Wohngruppe auftauchen würde, würde das nur unnötige Strapazen für den morgigen Tag mit sich bringen. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, sprang Hiroo auf. Mit einem letzten Kuss auf die Wange von Jay drehte sie sich auf dem Absatz herum und begann in einem leichten Trab zu einem ihrer gewohnten Sprints über den Campus anzusetzen. Sie atmete die frische Luft dieser Mondnacht ein und ließ einen eisigen Atem aus. Sie wollte die Wärme, die sie mit Jay geteilt hatte, noch ein wenig länger anfachen.

Die Nacht hatte sich über den Campus gesenkt. Jay schaute Hiroo noch lange nach, als sie in der Dunkelheit verschwand. Dann wandte er sich um. Die Nacht schien auf einmal so viel lebendiger geworden zu sein. Während Jay leichten Schrittes seiner Unterkunft entgegenstrebte, sog er alles in sich auf: Den frischen, kalten Windhauch, das Rascheln der Blätter und den Geruch von Erde und Gras. 'Oh ja', dachte er bei sich. Es waren in der Tat wunderbare Tage.

 

Die Eröffnungszeremonie

Der Tag des Sportfests, der die Wohngruppe 11 früh aus den Federn zu befördern wusste, war gekommen. Um Viertel nach sechs (laughs in Nordrheinwestfälisch) war Devy die Letzte, die Minuten vor dem Weckerklingeln die Decke wegschlug und sich umsah. Hiroos Bett war leer. Sie konnte nicht einmal sagen, ob es unordentlicher oder gemachter aussah als tags zuvor. Die Medikamente hatten in diesem Jahr unerwartet hart zugeschlagen - Devy war schon auf dem Rückweg von ihrem Shot-Termin schläfrig geworden und froh gewesen, dass es fast neun Uhr am Abend war und nur ein paar hundert Meter sie von ihrer Bettstatt trennten. Irgendwas hatte sie gestern noch vorgehabt - stimmt, kurz Hiroo anzusprechen auf die Sache vom Mittwoch, aber nachdem Devy sich die Treppen hochgekämpft hatte, war sie irgendwie erleichtert, die Verantwortung fallenlassen zu können. Ihre Mitbewohnerin war nicht dagewesen. Alles andere fühlte sich immer noch an, als hätte sich eine neue Art Schwerkraft darüber gelegt. Das würde sich bis zum nächsten Tag pünktlich zu den Leichtathletikmeisterschaften geändert haben. Für den Tag hatte Devy beschlossen, der Schwere ihrer Lider nachzugeben und so viel Schlaf zu bekommen, wie sie sich leisten konnte. Aber dann, nach einer kurzen Dusche, fühlte sie sich immer noch nicht ganz wie sie selbst. Das Fehlen ihrer Kraft kam ihr jedes Mal gespenstisch vor; obwohl das Mädchen sonst nicht den Eindruck hatte, oft auf sie zuzugreifen, war sie alle paar Sekunden neu an ihre Esperlosigkeit erinnert. Es war dieses Gefühl für ihre Umgebung, welches wirklich ein sechster (bzw. achter) Sinn für sie war. Nun musste Devy sich auf ihr Gleichgewichtsorgan verlassen können, um sich im Raum zurechtzufinden, und das ging ihr jedes Jahr entschieden auf die Nerven. Sie hatte doch nur den kleinen Zeitraum zwischen 7 und 10 Uhr, um sich unter den neuen Voraussetzungen in ihren Disziplinen zu versuchen, und die Zeit konnte sie nicht damit totschlagen, im Geradeauslaufen zu versagen. Devy suchte sich in der ungewöhnlich chaotisch hinterlassenenen Küche ein nahrhaftes Frühstück zusammen, packte es in einen kleinen Rucksack und machte sich auf ihren Weg.

Der Verlauf den die gestrige Nacht gezogen hatte, war von Bergen und Tälern umzogen. Während langsam wieder ein Bewusstsein in die schlafende Hiroo hineinkroch und sie mit Energie füllte, wurde ihr klar, in welche Situation sie gestern Abend hineingestolpert war. Sie konnte sich noch gut die Lippen ausmalen, die die ihren berührt hatte. Doch etwas hatte ihren malerischen Abend vermiest und das stieß ihr jetzt auf's neue wieder auf. Bevor sie unter ihre warme Decke in dem Zimmer, das sie sich mit Devy teilte, hätte schlüpfen können, war sie von Owens vor der Wohngruppe abgepasst worden. Auf den ersten Blick sagte ihr das Gesicht nicht viel. Erst nachdem sie sich vor Hiroo aufgebaut hatte und sich als ihre abendliche Begleitung zum Hauptquartier vorstellte, fielen ihr die Erinnerungen wie sanfte Regentropfen auf den Kopf. Diese Frau war die gleiche, die auch schon am Tag von Jacksons unrühmlichen Abschied ihre Eskortdame hatte spielen dürfen. "Oh, you're my escort to the high society club. You shouldn't have." Mit nur wenigen Worten hatte sich die zuvor neutral bestimmende Mimik von Owens verfärbt. Das leichte Gewitter wurde von einem donnernden, aber ruhig endenden Ton umspielt. "It's Lieutenant Owens for you. And you'll be my guest for the rest of the evening. The command doesn't wanna waste any ressources on the coming event tomorrow. That's why you're accompanying me right now. No need to get anything." Mit diesen Worten wies sie mit einer kurzen Handbewegung den ihr unterstellten jungen Mann an, Hiroo die kleine Tasche an notdürftigen Habseligkeiten zu überreichen. "Who the hell allowed you to touch any of my stuff?", schoss es Hiroo statt einem kurzen Dank über die Lippen. Owens machte keine Anstalten ihrer patzige Frage irgendeinem Wert beizupflichten. Kühl fügte sie ihrer ersten abweisenden Mimik hinzu. "It's property of the campus anyway, so don't waste your breath on me." - "And you think you own that badge of yours, huh? Whatever... just show me the door to the freezer." - "Oh, you're not going there. At least not without my explicit command." Trotz der Dunkelheit hätte man für einen Moment einen überraschten Blick auf Hiroos Antlitz erhaschen können. Ein anderes Areal hatte sie im Hauptquartier bisher nicht erkunden können und so ließ sie sich doch ohne weitere Widerworte mitschleppen. Viel zu dem Ort, an dem sie nun aufwachte, hatte sie in der kurzen Nacht nicht herausfinden können. Nicht ohne Grund hatte sie das Gefühl auch hier in diesem Teil des internen Konferenzentrums in ihrer Schlafzelle unter ständiger Beobachtung zu stehen und so reduzierte sie jedwedes verdächtige Verhalten auf ein absolutes Minimum. Das Gästezimmer, in dem sie nächtigen hatte dürfen, war reduziert eingeräumt, ohne Möglichkeit sich mental oder physikalisch zurückzuziehen. Sie versuchte sich langsam zu orientieren, anziehen brauchte sie sich nicht, hatte sie es doch nicht als nötig erachtet ihre normalen Klamotten auszuziehen. In einer Ecke fand sie ein kleines Wasserbecken, in dem sie sich erfrischte.

Kurz vor zehn an diesem Vormittag schwindelte es Devy wieder - zwischendurch hatte das Gefühl nachgelassen, doch dann, nachdem sie ein straffes Programm von Lauftraining, einigen Weitsprungübungen und einem kurzen Treffen mit ihren Mannschaftskameraden hinter sich hatte, konnte sie ein paar Extrakalorien dringend gebrauchen. Auf dem Rückweg von ihrem Abstecher zur Frühstücksausgabe schlängelte sie sich nun abseits der Wege, die die zentralen Gebäude mit den Sportanlagen verbanden, um die Kinder und Jugendlichen herum, die es weniger eilig zu haben schienen. Devy wusste selbst nicht so recht, was sie dazu bewegte, unbedingt einen guten Platz bei der Sommerfesteröffnung ergattern zu müssen - die grobe Sitzordnung der Altersklassen war ohnehin vorgegeben. Sie wusste natürlich, dass sie sich beeilen musste, um während der langen Ansprache bei ihren Freundinnen im Gras sitzen zu dürfen. Das hatte seine Vorteile, weil man so jede kleine Pause nutzen konnte, um das Gesagte, seine Umgebung oder seine Medaillenhoffnungen zu kommentieren. Aus Erfahrung wusste Devy aber, dass diese Art von Gesellschaft einen auch in den Wahnsinn treiben konnte, zumal sie schon das ziehende Gefühl nahender Kopfschmerzen verspürte. Nein, irgendwie hatte sie ein schlechtes Gefühl bei alledem; es war kein gutes Sportfestjahr für sie. Ohnehin war der Vorsprung, den die Rekrutin durch ihre Einsatzerfahrungen vielleicht im Blick der anderen gesammelt hatte, hier nur zu verlieren. 

Der strahlendblaue Himmel, unter dem sich um zehn Uhr circa zweihundert Rekruten versammelt hatten, lud dann nicht nur zur Vorfreude auf einen sonnigen Tag ein. Gerade aus der Richtung der Tribüne, die alle motivierteren Teilnehmer schon abgebaut sahen, blendete es zu Beginn der Startveranstaltung furchtbar. Devy hatte noch einmal das Gefühl, wach zu werden, als die Lautsprecher eine Fanfare abspielten und sie gerade - und stillzustehen hatte. Sogar Vela schreckte zusammen und stoppte mitten in ihrem begonnenen Satz, um ihre Stimme erneut zur amerikanischen Hymne zu erheben. Merkwürdig, musste Devy doch denken, hatte sich dieselbe WG-Genossin nicht endlos über diese Art Patriotismus echauffiert? "Das tun wir bloß, weil die UnEsCo mit der amerikanischen Regierung zusammenarbeitet." hatte sie überall herumposaunt, als sei das eine Neuigkeit. Und Devy hatte ihr zugestimmt, dass es schon eine merkwürdige Sache war. "Wir kommen schließlich nicht nur aus Amerika, viele sind aus anderen Ländern. Ich bin ja Australierin und habe einige Zeit in Großbritannien verbracht." Dabei war Devy kurz in ihre Vorstellung eines guten britischen Akzents eingestiegen, weil ihr der heimatliche Dialekt schon längst verlorengegangen war. Virginia war eine Zeit lang von Devys Herkunft fasziniert gewesen, Vela hatte so etwas noch nie groß begeistert. Es ging ihr um etwas andres. "Ach, besser wäre es, wenn man diesen Nationalismus ganz hinter sich ließe und sich auf uns als Esperrasse konzentrieren würde." zitierte sie irgendwen, vermutlich jemanden aus der eigenen Familie. Was immer aus dem Gedanken geworden war - nun stand Vela da und sang die Hymne der Vereinigten Staaten von Amerika, und auch Devy tat das, unabhängig von ihrem australisch-britischen Hintergrund. Sie hatte nicht wirklich etwas gegen den Appell mit seinem Gesinge, den Antworten im Chor auf fragenähnliche Phrasen und einer militärischen Handbewegung zum Kopf, die vielleicht bei unter zweihundert Minderjährigen in den gleichen tiefblauen Sportklamotten und altmodischen Käppis ein wenig komisch aussah. Irgendwie gehörte das alles ja dazu, und unbemerkt verhalf es Devy auch zu dieser Gemeinschaftsstimmung, die in diesem Jahr bisher noch wenig bei ihr angekommen war. Für ein paar Minuten jedenfalls, bis die Langeweile einsetzen musste.

Schon während der sich hinziehenden Bekanntmachungen driftete die große Masse gedanklich ab. Wie jedes Jahr übernahm nachfolgend Lieutenant General Nyquist, eine große, militärisch gekleidete Frau in ihren 50ern, den Hauptteil der Ansprache und appellierte wie immer an die Gemeinsamkeit und Gemeinschaft aller Menschen. Virginia stupste Vela an und verdrehte die Augen; Vela zog wahrscheinlich eine ihrer genervten Grimassen, das war von der Seite nicht so gut zu erkennen. An einer anderen Stelle kicherten die beiden gleichzeitig los, als hätte Nyquist ausversehen ein doppeltbesetztes Wort genutzt. Devy führte sich den letzten Satz der Campusleitung vor Augen, fand aber beim besten Willen nichts, was irgendeine ungewöhnliche Reaktion herausforderte. Auch sonst gab es niemanden, der sich auffällig benahm - das musste irgendein neuer Insider sein, den das Mädchen nicht verstand. Na gut, dachte Devy, es ist ja nicht so, als könnte ich jeden meiner Gedanken mit den anderen teilen. Als Nyquist auf die Verantwortung kam, die Esper auch in diesem verflossenen Halbjahr auf sich genommen hatten, um die Einhaltung von Menschenrechten sowie die Freiheit und Sicherheit der Espergeschwister zu schützen, hatte Devy viele Blicke auf sich gespürt. Gleichzeitig war ihr nach der Erfahrung eines Einsatzes wie dem letzten jedes Mal ein wenig mulmig zumute, wenn von dieser Einheit gesprochen wurde - der Einheit der Esper, wohlgemerkt. Dass nicht jeder Esperbegabte die UnEsCo als seine Familie ansah, hatte die Rekrutin ja nun am eigenen Leibe erfahren dürfen. Auch Hiroos Erzählungen und Andeutungen über den im Hintergrund wohl stattfindenden Konflikt innerhalb der Organisation ließen sie nun manches Mal aufhorchen, wenn irgendein Name aus der Hierarchie fiel. Nyquist hob gerne hervor, dass sie den derzeitigen Präsidenten Professor Haralt Weston persönlich kannte und mit ihm im Gespräch blieb. Was dabei inhaltlich zur Sprache kam, erwähnte sie auch diesmal nicht. Dann war sie schon zu Vertretern der föderalen Regierung übergegangen, die auf dem letzten Kongress gewesen waren. Also waren Esper gar kein so großes Geheimnis? Auf all das konnte Devy sich immer noch keinen Reim machen, aber weghören konnte sie auch nicht mehr. Gerade, als die Rede ein Ende zu nehmen schien, wechselte Nyquist noch einmal unerwartet das Thema. "Bevor wir die letztjährigen Statistiken und Medaillenträger noch einmal aufleben lassen, gibt es noch etwas, was wir dem Campus Kansas mitzuteilen haben. Viele werden mitbekommen haben, dass seit einiger Zeit Lücken in der Mitarbeiteraufstellung dieser Institution entstanden sind. Die schlechte Nachricht, die ich hier aussprechen muss, ist, dass es noch weitere geschätzte Kollegen gibt, die im Moment einen Wechsel in ihrer Karriere planen." Devy, die schon die ganze Zeit ihre Augen und somit ihren schmerzenden Kopf vor der harschen Sonneneinstrahlung zu schützen versuchte, und auch viele andere aus dem Publikum blickten auf. Virginia schnappte nach Luft. "Meine Trainerin hat da ne Andeutung gemacht. Hoffentlich nicht Jamila." In Devys Kopf drehte es sich im Kreis. Was hatte das zu bedeuten? Sie lauschte auf jedes Wort, das sie aus dem aufkommenden Geflüster aufnehmen konnte. "Aus diesem Grund stehen noch mehr Veränderungen an." Fuhr Nyquist fort. "Die gute Nachricht: Dank einem langjährigen Kollegen, der erst kürzlich aus einer Sonderbeurlaubung zurückgekehrt ist, werden wir uns nicht länger um geeignete Kräfte sorgen müssen. An diesem Tag dürfen wir ihn als neuen Head of Human Ressources begrüßen. Willkommen zurück, Colonel Michael Falk." 

Es war bereits brütend heiß, obwohl sie noch nicht einmal Mittag hatten. Jay kniff die Augen zusammen. Das grelle Sonnenlicht tauchte alles um ihn herum in einen Heiligenschein. Es war ihm unmöglich, sich umzusehen, ohne dass ihm sofort die Augen tränten. Der Klang von Musik echote über die Wiese, doch da sich Jays Patriotismus stark in Grenzen hielt und er die Nationalhymne sowieso nicht auswendig kannte, stimmte er – wie schon im letzten Jahr – nicht mit ein. Stumm lauschte er den Stimmen der anderen Rekruten und konnte nicht anders, als es befremdlich zu finden. Aber wen hätte das schon überrascht? Am allerwenigsten wohl ihn selbst.

Anders als im letzten Jahr jedoch hörte er der Rede von Lieutenant General Nyquist diesmal aufmerksam zu. Es war zwar viel langweiliges Gewäsch dabei, was ihn nicht wirklich interessierte. Doch er hatte sich vorgenommen, Informationen zu sammeln, wo er nur konnte. Und bei dieser Eröffnungsveranstaltung sollte er wesentlich mehr bekommen, als erwartet. Jay spitzte die Ohren, als Nyquist diverse Personalwechsel ansprach. Ihre Stimme drang klar und deutlich zu ihm herüber. Deswegen war er sich sicher, dass er sich nicht verhört hatte, als ihr letzter Satz verklungen war, auch wenn er sich in diesem Moment gewünscht hätte, dass es anders war. Dem jungen Mann gefror trotz der Sommerhitze förmlich das Blut in den Adern. Seine Angst, die er zuvor als lächerliche Paranoia beiseite gewischt hatte, holte ihn nun ein. Falk war zurück – in der denkbar schlimmsten Position, in die man ihn hätte erheben können. Das würde Konsequenzen nach sich ziehen. Jays Gedanken schossen zu Gwen. Und eine furchtbare Vorahnung breitete sich in ihm aus. Nur, dass er nichts dagegen tun konnte.

 

„ICH WILL ABER NICHT!“, schrie ich und trat einen Schritt nach hinten, rempelte meinen Sitznachbarn an, der offensichtlich aufgestanden war und sich bewegt hatte. In mir loderte es. Ich war wütend, ich war sauer, ich würde am liebsten alles in meiner Umgebung kurz und klein hauen, in schwarzen Löchern versenken oder in einer meiner Fantasiewelten zerhacken.

„Gwen.“, sagte Jamey nun streng und er griff wieder nach meinem Arm.

Wir standen auf dem Gang der Krankenstation und ich sollte geimpft werden. Ich hasste die Sommerspiele, ich hasste sie so sehr, dass ich mir geschworen hatte, diesmal würde ich mich nicht kampflos überreden lassen mich für zwei Tage in absolute Blindheit tauchen zu lassen.

„NEIN!“, kreischte ich nun, spürte das kitzeln der Wut in meinem Herzen und den Windzug, den es gab, kurz bevor sich direkt neben mir ein schwarzes Loch öffnete. Ich wollte sie alle zerstören. Alle. Diese ganzen, neunmalklugen, alles besserwissenden sogenannten Ärzte.

„Gwenny.“, sagte Briannas Stimme beruhigend aus dem Hintergrund. „Bitte. Komm. Es geht schnell vorbei.“

„HALT DEN MUND! ALLES WAS ES FÜR DICH BEDEUTET IST, DASS DU KEINE WÜRSTCHEN MEHR GRILLEN KANNST!“, schrie ich und ich spürte, wie sich meine Stimme beinahe überschlug. Mir wurde heiß. Erst dachte ich, dass ich mich so sehr aufregte, dann stellte ich schreiend fest, dass sie mir aus Wut meine Hose angezündet hatte. Wie eine Furie schreiend stürzte ich mich in die Richtung in der ich sie vermutete. Ein Junge im Hintergrund seufzte echauffiert und meine Beine wurden nass. John, alles klar. Ihn hatten sie also auch noch nicht geimpft.

Ich griff nach vorn, bekam Briannas Haare zu fassen, zog sie so heftig das sie kreischte, also trat sie mir gegen das Schienbein und wir gingen zu Boden. Sie schlug mir mit voller Wucht ins Gesicht, während ich spürte, dass ihre Handflächen begannen zu glühen, also öffnete ich wütend ein Portal. Ich spürte den Sog, auch, wie viel Kraft es mich kostete und auf einmal ging alles sehr schnell. Die Kinder im Flur kreischten – vor Angst oder weil ich eine Massenprügelei ausgelöst hatte weiß ich nicht - und dann wurde es kalt, so eisig, dass ich kaum atmen konnte, dass ich keine Bewegung mehr durchführen konnte und jemand zog erst Brianna von mir herunter, dann mich auf die Füße. Durch die Kälte und den fehlenden Energiefluss schloss sich mein Portal automatisch. Mit dem zippenden Verschlussgeräusch kam auch sofort die Wärme zurück. „Tu das nie wieder.“, zischte die Stimme. Sie war dunkel und tief, also vermutlich gehörte sie einem Jungen oder einem jungen Mann. „Solltest du das nochmal tun, wird es wesentlich unlustiger für dich, hast du das verstanden?“

Er griff nach meinem Oberarm und drückte fest zu. Seine Fingerspitzen wurden eiskalt und die Kälte zog so schnell zu meinem Herz, dass ich nur aufjapsen konnte, während mir die Tränen in die Augen stiegen. „Nie. Wieder.“, flüsterte die Stimme wieder bedrohlich, dann war Jamey bei mir.

„Finn, geh zurück. Sofort.“, sagte er, riss mich von ihm weg und zog mich grob zum Zimmer des Arztes, der mich spritzen sollte. „Wenn du noch einmal so eine Dummheit machst, Gwendolyn, dann werde ich veranlassen, dass du außerhalb deiner Einsätze nur während den Übungseinsätzen auf deine Kräfte zugreifen kannst. Hast du mich verstanden?“

Ich versuchte mich los zu machen, hatte aber die Kraft dafür nicht, sah ein kurzes Aufblitzen in mir, wie ich nur kontrolliert auf meine Kräfte zugreifen konnte und begann zu weinen, während mir der Arzt ziemlich grob den Ärmel nach oben rollte, mich desinfiziert und die Nadel in meinen Oberarm steckte. Die Flüssigkeit drückte, war kühl und gleichzeitig brennend heiß. Mit Herausziehen der Nadel aus meinem Arm breitete sich die absolute Dunkelheit in mir aus und mir wurde schlecht. So schlecht, dass ich mich, in Jameys Umklammerung, direkt aus dem Stand heraus übergab. Die Krankenschwester, die ich jetzt erst hörte rief nach einem Eimer und einem Lappen, aber mir wurde so schwindlig, dass die Beine nachgaben. Jamey zog an mir, an den Rest kann ich mich nicht erinnern.

***

Als ich aufwachte war immer noch alles dunkel. Verschiedene Stimmen redeten durcheinander. Jemand räusperte sich und die anderen verstummten.

„Gwen?“

„Mh?“

„Gwen, mein Name ist George Myers. Ich werde deine weitere Ausbildung übernehmen.“

„Mh?“

Im Hintergrund raschelte etwas, eine weibliche Stimme sagte: „Gut, dann geh ich. Das nächste Mal bitte nicht überdosieren.“ Eine Tür fiel ins Schloss und Jameys Stimme erklang neben meinem Ohr.

„Hey Schatz.“, sagte er und half mir mich aufzusetzen. „Gwenny, ich kann das nicht mehr. Ich hab nicht die entsprechenden Mittel um solche Aussetzer wie heute auf der Station in den Griff zu bekommen und das ist gefährlich. Für dich, für mich, für die anderen Kinder.“

Ich rieb mir durch die Augen, versuchte mich tastend zu orientieren. Die Stimme, die zu dem Mann gehörte, der behauptete er würde George heißen wandte sich mir zu: „Ich werde dich in den nächsten Monaten trainieren, Gwendolyn.“

Hätte ich meine Kräfte gehabt, hätte ich jetzt irgendwo in die Zukunft gesehen, gewusst wie er aussah und was seine Art anging. Mein Herz machte einen ängstlichen Hüpfer beim Gedanken an Colonel Falk und ich klammerte mich an die Liege auf der ich saß.

„Keine Angst, Gwen. Keine Angst. Ich bin mit George aufgewachsen, er ist etwas älter als ich, aber sehr lieb. Er hat Esperfähigkeiten, die dir helfen werden deine Kräfte besser zu verstehen und der dir helfen kann, nicht mehr aus Wut fast alle deine Klassenkameraden, Freunde und Bekannte auf einmal auszulöschen.“, sagte Jamey und obwohl ich wusste, dass er sauer auf mich war, hörte ich das leichte lächeln aus seiner Stimme.

„Ich verstehe, dass du Angst hast.“, sagte George. „Aber deine Abneigung ist unangemessen.“

Ich war irritiert. Woher…? „Bist du… bist du ein Empath?“, fragte ich vorsichtig.

George grinste scheinbar, als er antwortete: „Auch das, liebe Gwendolyn, auch das.“

Jamey strich mir über den Arm, nahm mich an der Hand und half mir von der Liege. George folgte ihm und mir nach draußen, vor die Tür. Ich ging langsam, weil ich keine Ahnung hatte wo ich war und wie die Umgebung gestaltet war. Es war alles ausgeschaltet. Alles was ich wahrnahm, war der Geruch nach Desinfektion und das Gefühl der großen, rauen Hand von Jamey. Vor der Tür legte er meine Hand in die von George.

„Tut mir Leid, Schatz. Ihr schafft das. Und wenn etwas ist, darfst du natürlich immer gern mit mir sprechen. Immer.“

Ich zog ein Gesicht, von dem ich hoffte es brachte zum Ausdruck, dass ich verletzt war. „Verräter.“, murmelte ich.

„Ich dich auch.“, grinste er und ich hörte, wie sich seine Schritte entfernten.

Ich räusperte mich. George nahm meine Hand fest in seine und sagte: „Lass uns erstmal zum Sommerfest gehen, Gwendolyn Faye Quagmire.“ In mir zog sich fast alles zusammen. So hatten mich zuletzt meine Großeltern genannt.

„Nennst du mich bitte Gwen?“, fragte ich vorsichtig. Ich wusste nicht, mit wem ich es zu tun hatte, was für eine Art Mann das war und welche Übung zuerst bevorstand.

„Klar.“, erwiderte er. „Nenn mich George.“

Innerlich atmete ich auf. Zum Glück.

„Also. Wie gut klappt Seilspringen, wenn du nichts siehst?“, fragte er.

„Naja, sagen wir, es sollte genug Platz sein, damit ich niemanden treffe…“, begann ich zu erklären.

***

General Nyquist hielt eine furchtbar langweilige Rede, während ich mich an den fremden Mann geklammert in den Schatten quetschte. Es war so unglaublich heiß, ich spürte, wie der Schweiß meinen Rücken hinunter ran, noch bevor ich mit Sport überhaupt begonnen hatte. Ich hatte Durst.

George reichte mir eine Thermoskanne voll lauwarmem Tee und irritiert trank ich einen Schluck. Was war das für ein Mann?

„Psst.“, machte er. „Nicht so laut.“

Erneut machte sich Irritation breit. Doch die wurde sehr schnell durchbrochen, als Nyquist Colonel Falk ankündigte und ich nicht wusste ob mir kalt, schlecht oder schwindlig war. Ich atmete schneller, hyperventilierte fast, dachte an den Pool, die Sporthalle, den Schmerz … „Nein.“, murmelte ich und vor lauter Panik spürte ich, wie sich Tränen in meine Augen kämpften. „Nein, nein bitte nicht. Bitte!“, sagte ich etwas lauter und wollte… -George legte eine Hand auf meinen Kopf und innerhalb weniger Sekunden spürte ich absolute Ruhe, wenn auch etwas Benommenheit.

"...so weich, dass man glaubt, man beißt ins Nichts. Und die Kruste ist dann wie ne Rüstung, die das da Drinnen beschützt. Richtig knusprig und in cooler Sichelform. Ich glaub ja, goldene Rüstungen sind ganz besonders. Nur für Könige und so. Auch wenns die ja kaum noch gibt. Nunja, und dann sind da so Löcher drin. Das sind richtige kleine Schatzkammern, weil da fließt der Honig dann rein und das sieht aus wie ein Goldschatz. Das macht richtig Spaß zuzuschauen. Und deswegen ist das Frühstück am Freitag das beste Frühstück in der Woche.

Ich muss jetzt los, liebes Tagebuch. Heute ist doch das Sportfest. Ich bin ganz schön aufgeregt. Aber ich erzähl dir dann später, wies war.

Bis dann

dein Exit"

Es war ein Tag wie jeder Andere. Alles fühlte sich neu an. Wenn Exit genau darüber nachdachte, mochte er bis vor kurzer Zeit Honig-Croissants garnicht so besonders. Lag es an dem Medikament, das er sich gestern hatte spritzen lassen müssen? Es war nicht zu verleugnen, dass sich der Rekrut seit dem gestrigen Termin im medizinischen Sektor des Camps anders fühlte. Anfänglich streubte sich Exit innerlich, der routinierten Prozedur, die dem Sommerfest voranging, nachzukommen, erinnerten ihn Spritzen doch zuweilen noch an die verhassten Jahre im Forschungsinstitut. Doch wusste Exit um die Obligatorik des Verfahrens, um für den Wettkampf zugelassen zu werden. Und so sprang er über seinen eigenen Schatten. Es kostete dem Schatten nur einen kleinen Stich und er klebte wieder an Exit. Größer und dunkler als zuvor. Er füllte einen Teil in Exit, der zu fehlen schien. Mit dem Wirkstoff breitete sich kriechend eine Leere durch seine Adern aus. Jede einzelne Zelle seines Körpers schien immer langsamer zu pulsieren. Es fühlte sich an, wie ein leichter Muskelkater, der sich über jedes Körperteil erstreckte. Anfängliche Kopfschmerzen und Schwindelgefühle verflogen noch am Abend des Behandlungstages, doch das unbehagliche Gefühl eines alternden Körpers blieb. Mochte es noch so unangenehm sein, im Innersten wusste Exit, dass dies nicht der Grund für seine scheinbar neu entdeckte Faszination für Süßgebäck war, die er glaubte seinem Tagebuch mitteilen zu müssen. Nein, es war die innere Unruhe, die ihn umhertrieb und in ihm wütete. Seit Mrs. Marples Tod machte sie sich in ihm breit. Seines Ankers beraubt, erwischte sich Exit seither immer wieder dabei, wie er versuchte an jeglichem festzuhalten, was ihm Halt versprach oder alles auf das Unkomplizierteste, Unbeschwerteste herunterzubrechen. War es Flucht? Hatte er nicht einst damit aufgehört davonzulaufen? Auf der Suche nach einem Platz? Hatte er nicht geglaubt, in der Organisation ein neues Zuhause mit neuen Freunden gefunden zu haben? Aber was für ein Held war er denn schon? Ein Held der Niemanden zu retten vermag?

Exit schüttelte seinen Kopf, um seine Gedanken zu verlieren und klappte sein Tagebuch zu. In wenigen Minuten begann die Eröffnungszeremonie für das Sommerfest. Die durfte er nicht verpassen. War das Sportfest doch die letzte Möglichkeit unter Beweis zu stellen, dass er das Zeug zu einem Helden hatte. Seine übliche Trainingsroutine hatte Exit am heutigen Morgen für die bevorstehenden Tage extra auf das Notwendigste reduziert, allein um abschätzen zu können, wie stark er von dem Esper unterbindenden Serum in seiner sportlichen Aktivität eingeschränkt wurde, ohne zu viel Energie vor dem Wettkampf zu verbrauchen. Okay, vllt lag es auch ein bisschen an der Esper, die in der Vorbereitungszeit des Sommerfestes dafür eingesetzt wurde, die Krafträume zu beaufsichtigen. Es war eine groß und schlank gewachsene, junge Frau. Exit hatte sie schon vorher gelegentlich auf dem Trainingsgelände gesehen, doch bisher beträute sie nicht die Trainingsanlagen, die Exit nutzte. Ihre braungrünen Augen umrahmt von ihrem rostroten Bob liesen sie wach wie ein Raubtier wirken und ihre muskulösen, breiten Schultern vermuten, dass sie Schwimmerin war. In einem Gespräch von Gerald mit einem anderen Ausbilder, hatte Exit aufgeschnappt, dass sie Ida hieß. Sie schien besonders unter den männlichen Ausbildern sehr beliebt zu sein. Wenn Exit ganz ehrlich war, dann fand er sie insgeheim unbeschreiblich schön. Sie machte ihm Angst. Als Exit am heutigen Morgen trainieren ging, schien sie durch ihn hindurchzuschauen, als sie ihn in das Nutzungsprotokoll der Anlage eintrug. Ihr Blick wirkte viel stumpfer und wütender als sonst. Exit hörte sie nur die Worte "faule Säcke", "als hätt ich nichts besseres zu tun" und "dumm und rumstehen könn die doch am besten" murmeln, doch er konnte sich beim besten Willen keinen Reim daraus machen. Aus Angst, den Zorn von Ida auf sich zu ziehen, beendete er sein Training nach einer lockeren Laufeinheit, Kraftübungen zur Aktivierung aller Gliedmaßen und ausreichendem Dehnen früher als geplant.

In Gedanken versunken und eh sich Exit versah, fand er sich auf dem großflächigen Platz der Eröffnungsveranstaltung wieder. Einige der Erwachsenen Esper in Warnwesten wiesen ihn und alle weiteren Rekruten, die gerade zur Veranstaltung stießen, in die Sitzbereiche der jeweiligen Altersgruppen ein. Exit hoffte, Jay oder ein anderes bekanntes Gesicht zu erhaschen, das seiner Altersgruppe zugeordnet wurde. Doch vergeblich. Und so setzte er sich, den Blick Richtung Tribüne gerichtet, um die restlichen Minuten bis zum Beginn der Veranstaltung abzusitzen. In diesem Moment fiel Exit die Unifom auf, die jeder einzelne Esper um ihn herum zu tragen schien. Ein blauer Trainingsanzug und eine blaue Mütze. Warum war er der Einzige, der in seinen üblichen Sportsachen in der Menge saß? Schon wieder hatte er das Gefühl nicht an diesen Platz zu gehören. Teil einer Organisation, die das vertrat, was er so gern verkörpern wollte. Gerald hatte ihn vorgewarnt, dass diese Situation auftreten würde. Da er einen noch recht losen Vertrag mit der Organisation hätte, kämen Exit nur bedingt die Fördermittel der UnEsCo zu Gute. Auch wenn Gerald ein sehr hilfsbereiter Trainer war, unter dessen Aufsicht Exit gestellt wurde, schien ihm nicht aufzufallen, wie sehr sein Schützling unter der Situation litt. Gerald war unter den Esper bekannt als der Gummimensch, da ihm seine Esper die Kraft verlieh, seinen Körper zu dehnen und zu verränken, wie er wollte. Besonders im Bodenkampf verstand er sich deswegen wie kaum ein Zweiter. Allgemeinhin nahmen ihn die anderen Esper als extrovertiert, laut und immer gut gelaunt wahr. Er war für einen anfang dreisigjährigen Mann eher klein, sehnig muskulös, trug sein Haar funktional kurz geschoren, er hatte Blumenkohlohren und seine Nase schmiegte sich aufgrund mehrerer, vorangegangener Brüche breit und eng an sein Gesicht. Doch auch wenn Gerald in seiner überschwänglichen Art so manche Regung in Exit übersah, konnte man ihm eine innewohnende Fürsorge nicht absprechen. Mit der Eröffnung der Veranstaltung wurde die amerikanische Nationalhymne angestimmt. Exit hatte bis gestern noch nie von dieser Hymne gehört, geschweige denn von irgend einer Hymne. Gerald hatte ihm überrascht den Text aufgeschrieben, damit Exit ihn für die Einheit der Nationen mitsingen konnte. Exit hatte den kompletten, gestrigen Abend damit verbracht, die 4 Strophen auswendig zu lernen, die ihm nun so wertvoll und bedeutsam schienen. Als die erste Strophe erklang, stimmte Exit aus tiefster Kehle in seinem weichen Bariton ein. "Blest with victory and peace may the Heaven rescued land praise the power that hath made an preserved us a nation." Diese Zeilen beeindruckten ihn besonders, als er die Strophen das erste mal las. Eine Kraft, die eine Nation geschaffen hat. Einheitlich für das Land. Mit Leidenschaft für das Gesungene, Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Wasser in den Augen stand Exit in der Menge, in der er Gemeinschaft sehen wollte.

Als die letzten Töne der Hymne verklungen waren, betrat Lieutenant General Nyquist die Tribüne. Exit hatte bisher kaum Kontakt mit Vertretern solch hoher Ämter der Organisation gehabt, doch die Rede, die sich anschloss, zog Exit komplett in ihren Bann. Gemeinsamkeit und Gemeinschaft aller Menschen? Menschenrechte? Freiheit und Sicherheit aller Esper? Das oberste Bestreben eines Helden. Eines Helden, wie Exit einer sein wollte. Lieutenant General Nyquist schien wegweisend zu sein und Exit bewunderte sie in ihrer Menschlichkeit. Er war bereit einer trotz ihres Amtes so selbstlosen Person und ihren Idealen zu folgen. Doch Lieutenant General Nyquist hatte auch beunruhigende Nachrichten zu verkünden. Die Organisation schien sich im Wandel zu befinden. Und mit ihr das Personal. War die Sicherung der Freiheit und der Rechte der Menschheit gefährdet? Bevor Exit sich in Kummer verlor, wusste Nyquist jedoch seine Gedanken aufzuhellen. Für Verstärkung war gesorgt. Colonel Michael Falk sollte das Amt des Head of Human Resources übernehmen. Was genau das bedeutete konnte Exit zwar nicht sagen, aber er vertraute darauf, dass diese Amtsernennung die Personalunruhen glätten könne, weil auch Lieutenant General Nyquist darauf zu vertrauen schien.

"Ich bin froh, dass die UnEsCo so gute Leute als Führer hat. Hoffentlich kann ich eines Tages auch meinen Teil für die Menschheit beitragen... Achja, jetzt werden ja noch die Gewinner vom letzten Sommerfest genannt. Ich bin mal gespannt, wer so gewonnen hat. Vielleicht muss ich ja gegen einen von denen später antreten. Das ist irgendwie alles ganz schön aufregend heute..", dachte sich der naive Rekrut.

Einige Zeit verbrachte Hiroo gelangweilt in dem schlicht eingerichteten Gästezimmer. Milchigweiße Fenster ließen Licht herein. Ihr Zimmer befand sich in einem der oberen Stockwerke, die für Gäste hergerichtet waren. Auf ihrem gestrigen Abendspaziergang hatte sie neben den vielen langen Gängen von der Ebene nur wenig zu Gesicht bekommen. Bald würde die Eröffnungsrede stattfinden, für die sie ohnehin nicht geplant hatte beizuwohnen, wenn sie es irgendwie hätte umgehen können. Ein paar dieser geschwollenen Propaganda-Ansprachen der UnEsCo hatte sie schon zu Genüge vernehmen dürfen. Es hingen im Gästebereich nicht ohne Grund in jedem Wartebereich tonlose Bildschirme, über die ebenso inspirationslose Phrasen zu den Werten dieser Organisation flimmerten. Hier und da lagen gläserne Tablets mit aktuellen Artikeln zu den Herausforderungen und Errungenschaften der UnEsCo. Auch in ihrem Zimmer lag ein solches Gerät neben Zeitschriften und Büchern, die sie sich zur Ablenkung zumindest angeschaut hatte. Zwischendurch wurde ihr eine Frühstück auf das Zimmer gebracht. Doch nichts konnte ihren Geist, der sich im Kreis zu drehen schien, auch nur für einen Moment zur Ruhe bringen. Wie ein gefangenes Tier ging sie die Wände auf und ab. Das Tablet war zu ihrem Verdruss nicht in einem lokalen Netzwerk angemeldet und auf die Artikel begrenzt, die fein säuberlich auf dem Gerät platziert waren. Einen Zugriff aufs Internet hatten solche Geräte ohnehin nie. Das hatte sie schon in ihrer ersten Woche auf dem Campus erfahren. Wenn sie Zugriff auf Informationen erhalten wollte, die nicht für ihre Augen gedacht waren, musste sie sich schon etwas besseres einfallen lassen.

Als Hiroo gerade wieder an der Tür entlang gelaufen war, öffnete diese sich und Owens stand im Flur vor ihr. Hiroo drehte sich für einen Moment erschrocken um, fasste sich jedoch im gleichen Augenblick und schaute Owens an, während diese sie ebenfalls kurz musterte. "I hope you had a wonderful night. I'm taking you out for a walk." Der Ton gefiel Hiroo nicht, doch das ließ sie sich nicht anmerken. "Got everything?" Stumm nickend folgte sie Owens aus der Tür heraus. Mit einer Karte verschloss sie die Tür hinter Hiroo.

Zusammen gingen sie zu einem größeren Wartebereich. Große spiegelglatte Fenster erlaubten einen Blick auf den Innenhof. Der breite Gang, den sie gekommen waren, verlief durch den großen Raum auf eine gläserne Durchgangsbeschränkung, die den Weg versperrte. Ein elektronisches Lesegerät befand sich an der Wand davor. "Where did Hampton go?", Owens schaue sich kurz gedankenverloren um und wies Hiroo an, sich auf einer der mit rötlichem Stoff bezogenen Bänke des Wartebereichs hinzusetzen. "I'll be right back. Don't even think about doing something stupid." Nachdem sie ihre Keycard vor den Scanner gehalten und einen Pin am Terminal eingegeben hatte, verschwand Owens hinter der automatisch auffahrenden Glastür im abgesperrten Bereich. Ein anthrazitfarbener steinerner Brunnen plätscherte in der Mitte. Die Einrichtung hatte etwas schlichtes und gleichzeitig stilvolles. Nur wenige Farben setzen sich von den anthrazit bis weiß eingekleideten Wänden, Decken und Böden ab. Die Steinplatten zu ihren Füßen strahlten einen gewissen Glanz aus. Hier und da standen grüne palm-artige Topfpflanzen, die den sonst so trockenen Gängen ein wenig Frische zurück gaben.

Lange musste Hiroo nicht warten, bis Phillip Hampton vor Owens durch die Tür hindurch stolperte. Sie konnte von ihrem Platz am Fenster die beiden gut am Brunnen vorbei beobachten. "I told you I couldn't go there without them." - "But did you really have to get them now?" Hampton war kaum zu erblicken hinter dem Stapel an Büchern, den er in beiden Händen vor sich balancierte und hinter dem sich sein Gesicht versteckte. Nur seine braunen Haare lugten dahinter hervor, während Owens ihn als seine Vorgesetzte zurechtzuweisen versuchte. "You know how long I borrowed them? It's probably a months salary they're going to charge me for all these overdue books. I don't even wanna know their fees for permanently borrowed books." Ein Buch löste sich aus den gestapelten Turm und glitt von der obersten Zinne herunter. Bevor sich aus einer hastigen Reaktion von Hampton eine Bücherlawine über den Boden ergießen konnte, griff Owens das Buch aus der Luft und legte es sorgsam auf den Gipfel, der knapp über seinem Haupt thronte, zurück. "You're borrowing a little too much of both my time and patience. They have their limits, too, you know?" Owens verzog das Gesicht scharf und folgte dem Weg um den Brunnen herum. Trotz der Reichweite hatte Hiroo jedes Wort verstehen können, tat jedoch als wäre sie in eine Zeitschrift vertieft, als Owens vor ihr stand. "Follow me."

Owens führte ihre kleine kuriose Karawane durch einige Flure hindurch, bis sie vor zwei gläsernen Flügeltüren angekommen waren. Der Bereich in dem sie nun eintraten war mit Holzwänden vertäfelt, zumindest das wenige das nicht von langen Bücherwänden verdeckt war. Neben einem gläsernen Fahrstuhl führte eine hölzerne Wendeltreppe hinunter zu einer zweiten Ebene. Neben den langen Holzschränken waren Arbeitsplätze aufgebaut. Auf einigen standen Computerbildschirme. An einigen Stellen befanden sich Infotermimals, über die man nach einem speziellen Buch suchen lassen konnte. Owens tippte etwas in den Terminal am Eingang und nickte dabei der Bibliothekarin zu. Ihr trocken dreinblickendes Gesicht fuhr nur kurz über Hiroo, bevor sie den nun langsam auf sie zutorkelnden Bücherturm inspizierte. Bevor sie auch nur eine halbe Begrüßung von sich geben konnte, entschuldigte sich Hampton bereits aufrichtig. "I'm so sorry, last months have been so rough. I had no time bringing them back." Nachdem er die Bücher in zwei Stapeln auf der Ablage vor ihr hingestellt hatte, zog er seine Keycard an einem Scanner entlang. Er bot ihr an, die Bücher zu ihren Plätzen zurück zu bringen, doch sie lehnte dankend und leicht belustigt ab. "As long as you don't rip them apart, you're good. These kids today don't know the worth of these books. Only a few of them come here after all." Während die beiden sich in ein Gespräch vertieften, führte Owens Hiroo die Treppe hinunter. "That's your playground for today. I'm having some work to do, so don't bother me."

Eine Stunde beschäftigte sich Hiroo mit einem Buch namens "Treasure Island". Zumindest dem Anschein nach wollte sie erst Mal weiter die Unbedarfte spielen. Owens hatte sich einen Platz in der oberen Ebene auserkoren und war nach einiger Zeit vertieft in den Laptop, den sie vor sich aufgebaut hatte. Hampton hatte es Hiroo gleich getan, sich jedoch einen etwas dünneren Roman als den ihren aus einer Buchreihe gezogen. Er hatte wohl gerade nichts weiter zu tun, als ein Auge auf Hiroo zu werfen. Doch auch bei ihm hatte sie nach kurzer Zeit das Gefühl, dass er sich voll auf das Buch konzentrierte, auf dessen Einband in roten Buchstaben die Worte "I am a Cat" und der Name "Soseki Natsume" zu lesen waren. Hampton erwischte Hiroo, während sie den Titel seines Buches las und sie wandte den Blick wieder dem ihren zu. Hiroo begann ihren Plan im Kopf weiter zu spinnen. Die Computer hier in der Bibliothek konnte sie vergessen. Sie boten nur Zugriff auf Daten innerhalb des Bibliothek-Netzwerks und selbst hier fehlte ihr eine Keycard, die ihr Zugang zu gesperrten Schriftstücken erlaubte. Der Terminal weiter oben sollte ihr da deutlich interessantere Infos geben können. Doch bis jetzt hatte sich die Bibliothekarin nur selten vom Empfang entfernt. Im Grunde hatte sie den Platz nur verlassen, um die Bücher von Hampton in die Regale zu räumen. So sehr sie seine Anwesenheit freute, für die Ordnung ihrer Bibliothek war ausschließlich sie verantwortlich. Während Hiroo so überlegte, hüpfte Hampton auf und tauchte kurze Zeit später aus dem Meer aus Büchern oben bei Owens auf. Sie konnte die beiden hier unten nicht verstehen, die dicken Bücher nahmen zu viel des Schalls auf. Doch plötzlich leuchtete einer der größeren Terminals vor Owens auf. Eine laute Stimme war zu vernehmen und auf dem Bildschirmen wurde die Rede vom Turnier live übertragen. Ihre beiden Wächter schienen abgelenkt.

Hiroo interessierte all das nicht, während sie ein paar Bücher aus verschiedenen Regalen zusammenklaubte und sich ein Plan in ihrem Kopf manifestierte, bemerkte sie jedoch ein paar ihr bekannte Gesichte in den Reihen der Campus-Bewohner. Auf dem Rednerpult wechselten sich zwei Personen ab. Die Stimme kam ihr irgendwo bekannt vor. Dafür hatte sie jedoch gerade keine Zeit. Sie kam oben bei der Bibliothekarin an. "I got these books laying around, where should I put them?" Fast entrüstet zog die Frau vor ihr die Bücher weg. "Where did you find them? I was just finished. I take them." Mit kurzem Atem verschwand sie hinunter zu den Bücherregalen. Keine Sekunde nachdem sie verschwunden war, sprang Hiroo unbemerkt hinter den Tresen und blickte auf zwei Bildschirme eines Terminals. Sie öffnete zwei laufende Programme und holte diese in den Vordergrund. Kameras vom Bereich waren zu sehen und erlaubten ihr eine gute Übersicht über den Fortschritt den die Frau beim Bücher sortieren erzielte. Hampton und Owens waren ebenso im direkten Ziel einer Kamera. Im Dateiexplorer bemerkte sie recht schnell, dass nur ein begrenzter Zugriff auf ausgewählte Dateien bestand. Im zweiten Programm erkannte sie im Aufbau nach kurzem Geklicke eine Liste der aktuell in der Bibliothek befindlichen Personen. Sie klickte aus erster Neugier auf ihren eigenen Eintrag. Der Eintrag öffnete sich und das Fenster überwarf sich mit allen Daten zu ihrer Person. Über weitere Aktionen fand sie die Möglichkeit auf einen Blick ihre gesamte Historie ihrer ausgeliehenen Bücher einzusehen. In der Übersicht war bereits ein roter Status zu ihrer Person vermerkt worden, und sie konnte darüber in eine kurze Auflistung an Vergehen durch ihre Person springen. Sobald sie jedoch auf weitere Informationen springen wollte, endete die Anfrage in einer kurzen Popup-Nachricht "User access level insufficient and/or current network is not elligible for this task." Diese Nachricht blinkte noch bei einigen weiteren ihr angebotenen Funktionen auf. [Eventuelle Infos zur eigenen Person hier einfügen] Sie hatte doch neben ihrer Person noch weitere in dieser Liste gesehen, eventuell könnte sie etwas über Owens herausfinden. Oder diesem Hampton. Sie öffnete schnell die Personenliste und klickte sich durch die Übersichten der beiden hintereinander durch. [Eventuelle Infos zu Hapton oder Owens hier einfügen]. So langsam bemerkte sie jedoch wie die Bibliothekarin ihrem letzten Regal entgegen kam. Sie musste sich beeilen. Hatte sie schon genug Informationen? Sie musste doch irgendwie noch mehr bekommen. Wie wild klickte sie sich durch unterschiedliche Ordner, doch viel mehr kontne sie scheinbar nicht in diesem Netzwerkbereich herausfinden. Irgendwo weiter im Adminstrations-Level schlummerten die Informationen die sie so dringend suchte. Da war sie sich sicher. Im Augenwinkel erhaschte sie wie die Frau aus der letzten Kamera verschwand und scheinbar die Treppe hochstapfte. Wie war noch das Fenster angeordnet? Sie versuchte so schnell wie möglich sich daran zu erinnern, um die zwei Fenster zu einer neuen Buchserie zu öffnen, zu der ein Artikel im Browsergeöffnet war. Im letzten Moment sprang sie hinter den Tresen und steckte ihre Nase in ihr Buch. Sie ging an ihr vorbei. Ohne ein Wort zu sagen, blickt auf ihren Bildschirm und war kurze Zeit später auch wieder in ihrem Artikel vertieft. Die Rede vom großen Sommerturnier hatte gerade seinen kröhnenden Abschluss. In den Rängen wurde geklatscht und Owens drehte die Lautstärke wieder herunter. Hiroo versuchte unbemerkt in die untere Etage zu gelangen. Nicht jedoch bevor Hampton sie erwischte und auf die Schulter klopfte. "How did you like the speech? I think Nyquist outdid herself today." Hiroo versuchte ein stilles Interesse an seiner Ausführung aufrechtzuerhalten, um eventuell ein paar interessante Informationen herauszulocken. Dieser Colonel Falk von dem er zum Ende sprach kam ihr seltsam bekannt vor, konnte sie doch kein Gesicht diesem Namen zuordnen.

 

Der Auftakt zu den Sommerspielen

Die große Digitaluhr zeigte 12:16 Uhr an, als Jay nach draußen trat. Warmer Wind schlug ihm entgegen und so empfand der junge Esper eine gewisse Vorfreude auf die Abkühlung, die der Schwimmwettkampf ihm bringen würde. Er blinzelte in dem gleißenden Licht der Mittagssonne. Die Nebenwirkungen des Censerums waren zwar nicht mehr so stark wie am Vorabend, machten sich aber doch noch bemerkbar. Für einen Moment konnte Jay nur Silhouetten ausmachen, während seine Nase schon den vertrauten Chlorgeruch der Schwimmbecken aufnahm.

Die meisten anderen Teilnehmer hatten sich bereits bei den Startblöcken versammelt. Und auch die Ränge waren gut besetzt. Jays Blick glitt über die riesigen Anzeigetafeln, auf denen sich Zahlen und Namen häuften. Er musste zweimal hinsehen, um sich zu vergewissern, dass die Zeichen leuchteten, denn er spürte nichts. Mit einem Kopfschütteln wandte der junge Esper sich ab, streifte sich seine schwarze Badekappe über und begab sich ebenfalls zu den Becken.

„Rekrut Martens“, meldete er dem Schiedsrichter, welcher soeben einem jüngeren Teilnehmer seine Bahn zuwies.

„Martens, ja?“, wiederholte der. „Bahn zwei. Es geht in -“ Er schirmte seine Armbanduhr gegen das Licht ab, um die Zeit zu entziffern. „-vierzehn, nein dreizehn Minuten. In dreizehn Minuten geht’s los.“ Jay nickte nur. Das ließ ihm genug Zeit, um noch ein wenig durchzuatmen und sich warmzumachen. Anscheinend war die Zuteilung der Bahnen aus den Ergebnissen der letzten Wochen hervorgegangen. Gut so, dachte Jay. Wenn die Statistik des Zeitschwimmens ihn nicht nach ganz außen katapultiert hatte, hatte er vielleicht eine Chance, den ein oder anderen Mitschwimmer zu überholen.

Trotz der unheilschwangeren Enthüllungen der Eröffnungsveranstaltung konzentrierte Jay sich ganz auf die Wettkämpfe. Er hatte sich geschworen, nicht von seinem Plan abzuweichen und deshalb musste er jetzt einen kühlen Kopf bewahren. In den letzten zwei Stunden hatte der junge Mann alle Gedanken um Falks Ernennung und jegliche andere Probleme beiseitegeschoben und sich mit dem Programm des heutigen Tages beschäftigt. Während er sich aufwärmte, ging er gedanklich alle formellen Details für den Start durch.

 

„Auf die Plätze!“ Jay rückte seine Schwimmbrille zurecht und begab sich in Position.

„Fertig!“

Ein gellender Pfiff startete das Rennen. Jay stieß sich vom Startblock ab und tauchte in die kühlen Fluten. Er hatte im Training neulich an seinem Absprung gearbeitet. Bisher war ihm die Form nie wichtig gewesen, aber jetzt zählte jedes kleinste bisschen Zeit, was er dadurch gewinnen konnte. Sein Kopf durchbrach die Wasseroberfläche und das Nass verschluckte ihn. Für wenige Sekunden schien alles weit weg, während er durch das Wasser glitt. Dann tauchte er wieder auf. Mit einem Schlag prasselten Eindrücke auf ihn ein: Die johlenden Zuschauer, das Platschen des Wassers und die verzerrte Stimme des Kommentators, der von irgendwoher das Wettkampfgeschehen kommentierte. Jay holte Luft, tauchte dann wieder ab und für kurze Zeit war der Lärm abgeschnitten. Er konzentrierte sich ganz auf seine Bewegungen, das Atemholen und das Ziel vor ihm. Die Bahn maß fünfzig Meter. Nach der Wende musste er nur wieder zurückschwimmen. Bei den hundert Metern, die sie absolvieren mussten, kam es weniger auf Ausdauer an. Jay wusste, dass er es trotzdem nicht übertreiben durfte. Aber wenn er nicht ganz hinten landen wollte, konnte er sich auch nicht zurückhalten. Er legte sich ins Zeug, kämpfte sich mit kraftvollen Zügen voran, fasste den Beckenrand und stieß sich nach einer schwungvollen Drehung wieder ab. Das Zeitgefühl hatte den jungen Mann schon längst verlassen und auf seine Umgebung achtete er auch nicht. Nur weiter, drängte er sich selbst. Nur weiter, so schnell wie möglich.

Jay aktivierte seine Reserven. Verbissen kämpfte er sich vorwärts. Es war nur noch ein kleines Stück. Der junge Esper legte alles in den letzten Spurt. Fast da, motivierte er sich. Fast da! Seine Hand schlug gegen den Beckenrand, begleitet von einem Signalton. Er hatte es geschafft. Das Adrenalin rauschte weiter, während der junge Mann mit seinen Händen den Beckenrand umklammerte und seinen Körper aus dem Wasser zog. Sein Atem ging stoßweise. Er hörte das Getummel um sich herum, doch alles drang nur halb zu ihm vor. Mit zitternden Fingern zog Jay die Schwimmbrille ab und schaute hoch zur Anzeigetafel. Für einen Augenblick verschwamm seine Sicht. Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Dann sah er erneut auf und sein Blick fand, was er gesucht hatte: Martens prangte direkt neben der Nummer 8. Jay lachte auf, musste aber sogleich husten. Das war schon fast zu gut gelaufen. Mit einem zufriedenen Grinsen stemmte Jay sich hoch. Es waren wirklich wunderbare Tage. Und gerade war ihm gleich, was auf ihn zukam – er würde sie in vollen Zügen genießen.

 

***

 

„Iiiih“, sagte ich und griff mir mit der Hand an die Nase um sie ein bisschen zuzuhalten. „Was ist das?“
George berührte mich an der Schulter, der Geruch verschwand und eine wohltuende Ruhe durchströmte meinen Körper. Fast erleichtert Griff ich nach seiner Hand und hielt sie fest um dieses Gefühl noch länger genießen zu können. „Wir sind fast da.“, sagte George leise. Ich wusste nicht, wieso er flüsterte, bis ich eine kindliche Stimme schreien hörte: „EY, DA KOMMT IRGENDEIN TYP!“

„Hendyk, du bist schon wieder zu laut.“, antwortete eine andere Stimme, leicht entnervt, und Wasser plätscherte von irgendwo her.

Etwas grunzte, raschelte im Gebüsch, Wind pfiff mir um die Ohren und wieder dieser Gestank, den George durch einen Händedruck auszuschalten schien. Er selbst war sehr still geworden und ich überlegte, ob er vielleicht die Luft anhielt, oder ob diese Fähigkeit die er zu haben schien, die mich so beruhigte, ihn sehr viel Kraft kostete.

„HALT DIE FRESSE!“, schrie die Stimme wieder. „DA KOMMT IRGENDWER. IRGENDEIN ALTER SACK UND EIN KLEINES MÄDCHEN!“

„Wir hören es, Hendyk.“, wiederholte die andere Stimme, gefolgt von weiterem Wasser plätschern.

George räusperte sich plötzlich. „So.“, meinte er gepresst. Als er mich los ließ schoss der Gestank in meine Nase, lies mich taumeln, raubte mir für einen Moment jeden klaren Gedanken und ich schlug die Hände vor mein Gesicht um diesen Flash abzumildern. Aber keine Chance. Meine Hände stanken, alles roch. Mir wurde schwindlig und ich würgte leicht. George berührte mich an der Schulter, der Gestank war weg und er atmete schwer. „Du bist jetzt bei den anderen, ja? Während den Sommerspielen könnt ihr hier zusammen sein und du musst nicht gequält werden. Wenn deine Kräfte ausgeschaltet sind halte ich es für angebrachter, wenn du dich schonst und dich darauf konzentrierst, was du außerhalb dessen bist.“ Er machte einen glucksenden Laut, den ich nicht zuordnen konnte, dann atmete er tief durch und mir wurde klar, dass er sich zusammen reißen musste um sich nicht zu übergeben. „Du bist mehr als deine Kräfte. Das geht den Anderen hier auch so.“

„Was ist mit den Anderen?“, fragte ich und krallte mich an George fest, wollte nicht, dass er mich los ließ und der Gestank wieder bis hoch in mein Gehirn kroch. Diese Gruppe an Kindern kannte ich nicht, ich hatte Angst, dass sie mich verurteilen würden. Ich war gerade erst zehn geworden und deswegen wurde ich diesen Menschen hier zugeteilt. Was mich erwartete und vor allem wer - das würde ich jetzt erst erfahren.

„Sie haben Kräfte, die, in ausgeschaltetem Zustand…“, er schluckte laut, suchte nach einem Wort, „…die in ausgeschaltetem Zustand nicht sinnvoll sind.“

Ich stutzte. „Also bin ich nur blind nicht sinnvoll?“

„Ich…“, setzte George an, konnte aber nicht weiterreden. Er ließ mich los, wandte sich zur Seite und übergab sich geräuschvoll.

Ich taumelte, griff hinter mich, in etwas Stacheliges, verlor den Halt – zwei sehr stachelnde Hände schoben mich in eine aufrechte Position. „Aua.“, jammerte ich leise. Der Gestank war sinnbetäubend, doch der Schmerz, der mich nun durchfuhr raubte mir ebenso den Verstand. Ich spürte, wie mein Blut meinen Arm hinunter floss, es war keine kleine Schnittwunde.

„Ach, so ein Mist!“, hörte ich eine blumige Stimme. Es war eine Frau, die in Windeseile auf mich zu gerannt kam, meinen Arm packte und notdürftig versorgte. „Jemma.“, sagte sie tadelnd, vermutlich zu der stachelnden Person.“

„Ey, sie ist in mich hineingefallen!“, verteidigte sich die Stimme, die offensichtlich zu eben angesprochener Jemma gehörte.

„Du siehst doch, dass sie nichts sehen kann.“, murmelte sie ihr zu.

„Mh.“, sagte Jemma neben mir unzufrieden. „Tut mir leid.“

Die Worte waren an mich gewandt, ich nickte hektisch. „Was bist du?“, presste ich zwischen den Zähnen hervor. Ich wollte nicht sprechen, nicht atmen, der Geruch…

„Wir sind…“, Jemma schien zu überlegen wie sie das in schöne Worte packen konnte. „Schau, kennst du noch Wolverine? Dieser abgefahrene Comic? Von ganz früher? Mein Daddy stand da komplett drauf.“

„Ähm.“, sagte ich und versuchte meine Gedanken zu sortieren. „Der Kerl mit den Eisendingern, die ihm aus der Hand schießen?“

„Ja!“, rief Jemma freudig. „Also pass auf, wenn ich meine Kräfte steuern kann, dann kann ich an jeder beliebigen Körperstelle so ein Ding wachsen lassen. Noch sehr dünn, mehr wie Nadeln, aber ich bin auch noch jung. Aber im Grunde bin ich eine riiiiiiiichtige Kampfmaschine! Meine Kraft ist praktisch, die kontrolliert auszufahren. Jetzt sind die aber ausgeschaltet und ich seh aus als würde ich aus Nadeln bestehen. Also… siehst du gerade etwas zerfleddert aus.“, endete sie etwas kleinlaut.

Ich spürte in mich hinein, aber die blumenstimmige Frau drehte und wendete mich um jede kleine Wunde zu finden. „Alles gut“, beruhigte sie mich. „Du bist verarztet.“

Dann wandte sie sich an George, der noch immer in irgendeinen Teil am Anfang des Geländes kotzte. „Hey George.“, sagte die Blumenfrau.

„Hey Fleur.“, erwiderte er.

„Echt jetzt?“, sagte ich.

Die Frau lachte. „Du kannst es nicht sehen, mein Mädchen, aber ich bin tatsächlich sehr blumig. Den Namen fanden meine Eltern wohl sehr passend.“

Sie wandte sie George zu, holte etwas aus einer Tasche und spritzte ihm etwas. Er erholte sich praktisch sofort, richtete sich auf und wischte sich mit der Rückseite der Hand den Mund ab. „Igitt.“, sagte Fleur und reichte ihm ein Desinfektionstuch.

Direkt danach spritzte sie mir etwas ohne Vorwarnung in den Arm und ich konnte wieder atmen. Der Gestank war verschwunden, der Nebel um mein Gehirn lichtete sich und unter meinen Füßen nahm ich leise Vibrationen wahr. „Hey, hat das eine andere Wirkung als es sollte?“

„Nein, mein Mädchen.“, sagte Fleur. „Du spürst nur deinen Körper etwas intensiver. Deine Kräfte kommen erst heute Abend oder morgen früh zurück, tut mir leid.“

An George gewandt fügte sie seufzend hinzu: „Du hättest mich anrufen sollen, du weißt doch, dass man ohne die Impfung anfällig reagiert.“

George tat zumindest beschämt, verabschiedete sich von mir und sagte, dass er sich eine Cola holen wolle. Ich könne mich ja im Pool mit ein paar Kindern unterhalten bis er wieder da sei.

„EY DU!“, brüllte mir plötzlich die Stimme von vorhin ins Ohr. „EY ICH KANN ALLES HÖREN, EGAL WIE LEISE ES IST! ALSO HÖR AUF SO LAUT ZU DENKEN!“

„Hendyk.“, sagte Fleur ermahnend, aber dieser kleine Junge hatte die Falsche angepöbelt.

„HALT DEINEN MUND UND GEH MIR AUS DER SONNE!“, rief ich laut. Er trat mir gegen das Schienbein. Ich jaulte kurz auf, trat zurück, traf aber jemanden oder etwas, das wirklich steinhart war und ich hörte es in meinen Fußzehen knirschen.

Eine dunkle Stimme sagte: „Hendyk, noch eine Ausfälligkeit gegen ein Mädchen und ich hänge dich da oben an die Eiche und du musst den Eichhörnchen beim Nüsse fressen zuhören.“

Auch wenn ich diese Drohung doch eigenartig fand, schien sie zu wirken. Sofort wirkte Hendyk kleinlaut und zog sich zurück: „Ja, okay, ja gut. Entschuldige, Seam.“

Fleur beugte sich zu mir. „Das ist Seam. Er ist ohne seine Kräfte praktisch nur riesengroß und wie ein Stein. Du kannst davon ausgehen, dass du dir deine Fußzehen mindestens verknackt hast.“

Ich nickte, ignorierte den Schmerz in Arm und Fuß tapfer. Schließlich wollte ich nicht, dass man mir vorwarf, ich wäre ein Mädchen. Nicht nochmal. Wer zum Geier konnte behaupten schon einmal von einem Stein als Mädchen bezeichnet worden zu sein?

Fleur zog mich ruckartig zu sich. „Vorsicht.“, sagte sie und entschuldigte sich. „Da unten auf dem Boden liegen Gabrielle und Athena.“

„Was? Warum?“, fragte ich irritiert.

„Naja, ihre Kraft besteht im weitesten darin, sich in einer bestimmten Form zu halten. Sie müssen sie den ganzen Tag anwenden, sonst schwimmen sie auseinander. Also ohne ihre Kräfte bilden sie gerade… eine Pfütze.“

Ich lachte kurz auf.

„Nicht witzig.“, sagte eine der beiden Pfützenmädchen pikiert. „Sobald wir wieder eine Form haben zeigen wir dir, wie so eine Pfütze ist…“

„Na.“, sagte Fleur. „Sie kann euch nicht sehen.“

„Sie soll es auch spüren…“, sagte die andere der beiden Mädchen und Gabrielle und Athena begannen wieder zu tuscheln.

Irritiert schüttelte ich den Kopf. So viele, wirklich unnütze Kräfte hatte ich noch nie auf einem Haufen erlebt. Was beherbergte die UnEsCo hier eigentlich alles? Und viel wichtiger: wie hielt sie diese ganzen Kinder unter Kontrolle?

„Da hinten sind Ghnoo und Oghny.“, sagte Fleur. Beide Namen hatten einen unangenehmen Knacklaut. „Die beiden habt ihr gerochen. Weißt du, die beiden Schwitzen. Ihre Kraft besteht darin, dass sie die Schweißdrüsen kontrollieren können, sowie ihre Ausscheidungsorgane. Jetzt sind ihre Kräfte aber ausgeschaltet, also…“

„Stinken sie?“, fragte ich schockiert und ich bildete mir ein, die Vibration des Nickens aus Fleurs Körper zu spüren.

„Wir müssen allen etwas spritzen, damit man sich nicht übergeben muss. Dabei sind es so liebe Kinder…“, sagte Fleur beinahe verträumt. Sie führte mich an den Rand eines kleinen Kinderswimmingpools. „Das ist Millie.“, sagte Fleur glücklich. "Ihr werdet euch sicher mögen. Millie, das ist Gwendolyn."

„Hey.“, sagte eine weibliche Stimme und Wasser plätscherte wieder. Es musste die sein, die sich vorhin mit Hendyk unterhalten hatte. Als sie mir ihre nasse Hand gab, schrak ich kurz zusammen, doch dann fiel mir ein, dass meine Kräfte ausgeschaltet waren und plötzlich hoben sich meine Augenbrauen, ich kreischte fast und stürzte mich, mit samt meinen Klamotten (es mir egal ob sie nass wurden, es war einfach zu heiß um darüber nachzudenken) in den Pool.

„Okay wow.“, sagte Millie und kicherte. „Hab noch nie jemanden erlebt der sich so krass über Wasser gefreut hat!“

„Du hast ja keine Ahnung!“, jauchzte ich glücklich. Meine Haare hingen mir in nassen Strähnen angeglitscht am Kopf. Ich tauchte sofort unter, setzte mich auf den Beckenboden, spürte, wie meine langen Haare durch das Wasser waberten und strich sie zurück als ich auftauchte.

„OH MAN, JAAAAAAAAAAA!“, rief ich quietschvergnügt und spritzte Wasser in die Richtung in der ich Millie vermutete. Kichernd platschte sie etwas riesiges ins Wasser und die Welle, die mich überrollte riss mich um.

„Was war das?“, fragte ich, als ich hustend auftauchte.
„Ich bin eine Meerjungfrau. Ich kann mit meinen Kräften in eine menschliche Gestalt wechseln, aber ohne… bin ich eigentlich ein halber Fisch.“, sagte sie. „Sorry fürs umwerfen.“
„Kein Problem.“, japste ich, lies mich erneut umfallen, tauchte, betastete interessiert Millies Flosse, redete mit ihr und innerhalb weniger Minuten wusste ich, dass ich eine neue Freundin gefunden hatte.

„Na?“, fragte plötzlich Georges Stimme hinter uns. „Ich sehe, ihr habt Spaß?“
„Und wie!“, riefen Millie und ich gemeinsam.
„Wollt ihr ein Eis?“
Millie schwieg irritiert. „Echt?“
„Ja?“, sagte George verwundert.
„Du bringst uns ein Eis?“, fragte ich vorsichtig.
„Das…würde ich tun, ja.“, sagte George und sein Misstrauen wuchs.
„Das ist ja…“, begann ich.
„…ultra krass.“, beendete Millie.

Fleur lachte aus einiger Entfernung. „George. Du weißt doch, die Kinder kriegen sonst nie Eis.“
Er schien sich zu entspannen und gluckste amüsiert. „Nun. Dann ist das heute die Ausnahme.“, meinte er.

„Bitte Pfefferminz-Schoko.“, sagte Millie verträumt. „Erdbeereis, bitte.“, sagte ich leise. Ich konnte es kaum aufhalten, mir rollte eine Träne die Wange hinunter. Ich hoffte nur, dass ich so nass durch das viele Tauchen war, dass es niemand sah. Ich saß mit einer Freundin im Pool, wir hatten Spaß, es war warm und ich durfte ein Eis essen. Das war der mit Abstand beste, normalste Tag meines Lebens, seit einer ganz langen Weile. Ich war einfach nur ein Kind.
Gut, meine Freundin hatte eine Flosse und ich hatte keine Ahnung wie sie aussah und ich konnte auch nur mit ihr baden, weil ich unter Drogen stand. Aber manchmal nimmt man jedes bisschen Glück einfach so, wie man es kriegen kann.

Manchmal ist eine Kugel Erdbeereis im Pool genug Glück für einen ganzen Tag.

 

Ich habe es gewusst, dachte sich Devy. Sie wagte nicht, aufzublicken, versuchte, sich ganz aufs Atmen zu konzentrieren, und auf ihr Gleichgewicht. Ihr Körper hatte sie im Stich gelassen. So schlecht hatte Devy nicht mehr abgeschnitten, seit sie dreizehn gewesen war. Noch schlimmer, vor ihrem geistigen Auge sah sie ein weiteres Mal Cathy aus der Mittelstufenabteilung an ihr vorbeiziehen. Devy hielt den Blick gesenkt, meinte aber, Cathys Stimme zu hören, voller Begeisterung über einen...vielleicht dritten oder vierten Platz.

Ihren eigenen wollte sie sich gar nicht zusammenrechnen, und noch weniger davon hören. Aber es gab genug Publikum, einige ihrer Freundinnen eingeschlossen, denen Devy jetzt nicht ins Gesicht schauen wollte. An all die Trainer ihrer Laufbahn durfte das Mädchen gar nicht denken. Sie hielt sich nun an der Bande fest, schwankte nicht nur aufgrund des Schwindels, den sie wirklich spürte. Man sollte ihr ansehen, dass der Grund für ihr Versagen in diesen Gleichgewichtsproblemen lag, die sie bereits als in diesem Jahr besonders heftig angekündigt hatte. „Ich hab es doch gewusst!“ Devy hatte es kommen sehen, und die schmerzhaften Stiche in ihrer Lunge, die nun nachließen, verrieten die Wahrheit. Es musste an dem Training liegen, das sie hatte schleifen lassen, und das wussten Vela, Virginia und die anderen auch. In wenigen Augenblicken würde eine von ihnen da sein, um sie zu trösten, oder jedenfalls irgendwas zu sagen, was Mitgefühl, Mit-Ärger, Verständnis oder Verständnislosigkeit ausdrücken sollte. Von all dem wollte Devy gerade nichts hören. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendwas davon ihr Selbstbewusstsein wiederherstellen oder wenigstens so etwas wie Ablenkung bringen konnte. Also wartete Devy einfach nur, auf das, was kam. Und als sie dann doch den Kopf hob, nach gefühlten Ewigkeiten, weil es um sie merkwürdig still geworden war – da waren sie alle schon weitergewandert.

 

Der zweite Tag und ein Turnier

 

Das schrille Klingeln seines Weckers riss Jay aus dem Schlaf. Noch halb auf der Schwelle zwischen Traum und neuem Morgen langte er zur Seite, um den Alarmton abzustellen. Dann hob er träge die Lider. Zwei, drei Sekunden lang starrte der junge Mann an die Decke, bis sein Gehirn registrierte, welcher Tag soeben eingeläutet worden war. Mit einem Ruck hievte er sich hoch, sprang aus dem Bett und machte sich auf den Weg nach unten.

Keine fünfzehn Minuten später stand er frisch und munter in der Küche, eine Schale mit Müsli in der Hand. Hinter ihm schien die Sonne durchs Fenster und breitete ihre Strahlen angenehm warm auf seinem Rücken aus. Neben ihm pfiff der Teekessel. Und aus dem Bad hörte er das Rauschen von Wasser – vermutlich T. Im Gegensatz zu ihren beiden Mitbewohnern waren Ciara und Andy nur Frühaufsteher, wenn es sein musste. Außerdem kostete Tyson die Tage des Sportfestes voll aus. Für ihn bedeutete es ebenfalls puren Luxus, seine Kräfte für diese Zeit los zu sein.

Als T ein paar Minuten später aus dem Bad kam, saß Jay bereits am Küchentisch, eine Tasse dampfenden Tees in der Hand und begrüßte seinen Mitbewohner mit einem stummen Nicken. T nickte zurück.

„Morgen.“

„Ist noch heißes Wasser übrig“, sagte Jay. Tyson nickte wieder, ging an ihm vorbei und holte eine Tasse aus dem Küchenschrank hervor.

„Danke.“

Für eine Weile herrschte Schweigen, während T sich einen Instant-Kaffee aufbrühte und Jay sein Frühstück zu sich nahm. Das war nichts Ungewöhnliches.

„Du hast heute noch was, hm?“, fragte Tyson schließlich, als er sich zu Jay an den Tisch setzte.

„Hm“, antwortete der, den halb mit Müsli und Milch gefüllten Mund zu einem Lächeln verzogen. Er schluckte. „MMA.“ T grinste.

„Du freust dich doch nicht etwa darauf?“

„Und wie ich mich freue.“

 

Das Turnier für die Altersklasse fünfzehn bis fünfundzwanzig war für 14:00 Uhr angesetzt. Bei der UnEsCo war es – wie bei vielen anderen Organisationen – Tradition, den Programmplan bei den Jüngeren anzufangen und sich mit fortschreitender Zeit durch die Altersgruppen zu arbeiten. Trotzdem war Jay schon seit Beginn der Veranstaltungen in der Halle. Jordan hatte nur einen weiteren Schützling, der sich an das Turnier heranwagte. Und er verbrachte jedwede Minute, die überblieb, damit, Jay auf seine Kämpfe am Nachmittag vorzubereiten. Für die zu überbrückende Zeit hatte er seinem Schüler den Turnierplan ausgehändigt, mit den Worten:

„Guck schonmal drüber. Wenn Joeys Turnier vorbei ist, sehen wir uns das Ganze genauer an.“

Jay hatte genickt und sich das Faltblatt unter den Arm geklemmt.

Dann war er losgezogen, weg von dem Trubel in den Haupthallen, und suchte nach einem abgelegeneren Raum, um sich in Ruhe dem Turnierplan widmen zu können. Als er so durch die Flure streifte, lief ihm Alexis über den Weg. Jay erinnerte sich noch an das Sparring mit ihr, das Jordan organisiert hatte. Die Kleine beherrschte vor allem Techniken aus dem auch „Circlewalking“ genannten Ba'Gua. Das bedeutete, dass ihr Kampfstil vor allem auf Ausweichen fokussiert war. Von sich aus initiierte sie fast keine Angriffe, was Jay damals gehörig auf den Sack gegangen war.

Zielgerichtet und mit federndem Schritt steuerte Alexis nun schnurstracks auf ihn zu.

„Hey Jay.“ Sie versuchte, beiläufig zu klingen, was ihr aber mehr schlecht als recht gelang. Man hörte deutlich die Aufgeregtheit in ihrer Stimme, gepaart mit einer gewissen Vorfreude.

„Hey“, sagte Jay nur und wollte sich schon an ihr vorbeischieben. Doch Alexis machte einen Schritt zur Seite und stand wieder genau vor ihm.

Du weißt es noch nicht, oder?“

„Weiß was nicht?“ Jays Desinteresse war nicht zu überhören.

Alexis sah ihn verschmitzt an.

„Wir treffen in Runde eins aufeinander.“

Jay zuckte mit den Schultern.

„Hab mir den Plan noch nicht angeschaut“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Aber bist du nicht eigentlich zu jung?“ Er musterte das Fliegengewicht von einem Mädchen. Auch wenn ihre Art zu kämpfen ziemlich herausfordernd sein konnte, räumte Jay ihr keine wirkliche Chance ein, bei den Kämpfen irgendwas zu reißen.

„Ich bin letzten Monat fünfzehn geworden“, verkündete sie und machte sich so groß wie möglich.

„Glückwunsch“, bemerkte Jay trocken. „Du entschuldigst mich?“ Er zog den Turnierplan hervor und hielt ihn Alexis unter die Nase. „Ich hab noch was vor.

 

Die nächsten Stunden zog Jay sich zurück. Nachdem er den Turnierplan durchgegangen war, wärmte er sich auf und übte dann Techniken und Formen. Wie Bart ihm immer wieder aufs Neue eingeschärft hatte, konnte er seine freien Kapazitäten nicht oft genug nutzen, um zu trainieren. Und gerade jetzt, direkt vor den Kämpfen, war es besonders wichtig, eingespielt zu sein.

Um zwölf Uhr piepste Jays PDA. Er bekam ihn seit einer Woche immer wieder von Jordan während der Trainingszeiten ausgehändigt. Das Gerät war eine sogenannte Gewöhnungsmaßnahme. Es beinhaltete diverse Funktionen, wie ein simples Nachrichtensystem mit einigen festgeschriebenen Kontakten, sowie Timer und Wecker, aber auch einem Kalender und Notizbuch. Das waren zumindest die Applikationen, die Jay sich erschlossen hatte. Die digitale Welt überforderte ihn zumeist immer noch. Er schaltete den Timer aus, schnappte sich seine Sachen und machte sich auf den Weg zurück zur zentralen Halle. Auf dem Weg hielt er an einem Imbissstand an, wo zwei geschniegelte Teenager-Mädchen Sandwiches und geschnittenes Obst verteilten. Mit seinem Mittagessen im Schlepptau stiefelte er los.

Natürlich piepste sein PDA genau in diesem Moment. Mit einem genervten Schnauben zerrte Jay das Ding mit einer Hand aus der Tasche, während die andere seinen Pappteller mit belegten Broten samt Fruchtspieß balancierte.

„Eine neue Nachricht“ erschien samt Briefsymbol auf dem Bildschirm.

Ach wirklich, dachte Jay und tippte mit dem Daumen auf dem Gerät herum.

Ein neues Fenster ploppte auf und enthüllte die gewünschten Informationen:

 

Datum: 30.06.2029

Von: White, Jordan

Betreff: AW: Turnierorga

 

Hi Jay,

ich hab uns einen Raum klargemacht, wo wir in Ruhe reden können. Komm nach B-025, wenn du soweit bist. Das ist im rechten Flügel neben den Haupthallen.

Gruß, Jordan

 

Wortlos schloss Jay die App und bog in die Flure des B-Teils ab.

 

Der Raum, den Jay nach kurzer Suche betrat, war kaum größer als eine Besenkammer. Die spartanische Einrichtung bestand aus einem Spind sowie einem Tisch, der den Karton von Zimmer fast vollständig ausfüllte. Jordan saß im Schneidersitz auf dem Ungetüm. Vor ihm ausgebreitet lag ein aufgefaltetes Blatt Papier.

„Willkommen im Konferenzraum“, grinste Jordan. Jay bekam ein leichtes, schiefes Lächeln zustande und lud seine Sachen auf dem Tisch ab.

„Ich bin so frei.“

Mit diesen Worten ließ er sich gegenüber von Jordan nieder, ebenfalls im Schneidersitz. Einen Moment sagte keiner der beiden ein Wort. Jay nahm sich eines der Sandwiches und begann zu essen. Schließlich fasste Jordan sich ein Herz.

„Also. Das ist dein großer Tag. Du kannst dieses Turnier gewinnen. Davon bin ich fest überzeugt.“ Jay erwiderte seinen Blick und nickte. Jordan fuhr fort: „Ich ... ich wollte dir das sagen, weil ich wirklich glaube, dass du es draufhast. Und ich bin einfach so – ich will es ihnen zeigen. Ich will ihnen zeigen, was du kannst.“ Jay nickte wieder.

„Und für die optimale Vorbereitung-“ Jordan zog den Turnierplan zurecht. „Schauen wir uns mal deine Gegner an. Die Favoriten für dieses Jahr sind Makeda [Nachname], Lucian Byrne – beide in deinem Block.“ Er deutete auf die Namen und zeigte dann auf die Gruppe B. „Weiterhin die Wei-Zwillinge, beide auf ihre Art sehr gefährlich.“ Er sah auf. „Und natürlich dein Teamkamerad Exit.“

Exit. Jay war vorher schon beim Lesen des Plans darauf gestoßen. Eigentlich überraschte es nicht, dass er an dem Turnier teilnahm. Aber Jay hatte trotzdem bis dahin nicht darüber nachgedacht. Er konnte seinen Teamkollegen auch schlecht einschätzen. In den bisherigen Einsätzen hatte er ihn nur wenig kämpfen sehen.

Jordans Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen.

„Fürs Erste befassen wir uns aber mit der unmittelbaren Bedrohung. Sprich: Deine erste Gegnerin, Alexis Meyers.“

„Hab sie vorhin schon getroffen“, sagte Jay. Jordan sah ihn prüfend an.

„Und, hast du schon einen Plan, wie du mit ihr fertig werden willst?“

Sein Schüler grinste.

„Tatsächlich ja.“

Jordans Miene war eine Mischung aus einem Schmunzeln und einem wehmütigen Lächeln.

„Es ist schön, dich mal richtig motiviert zu erleben.“

Jay zuckte mit den Schultern.

„Ich hab ja auch ne gute Motivation.“

 

Die Zeit war verflogen wie nichts. Mittlerweile ging es straff auf 14:00 Uhr zu und obwohl Jay gedacht hatte, innerlich abgeklärt zu sein, spürte er eine leichte Nervosität in sich hochsteigen. Er zog noch einmal kurz seinen High bun zurecht, dann drückte er die Tür auf und betrat die Halle.

Auch wenn er heute schonmal hier drin gewesen war, fühlte es sich noch immer seltsam an. Er brauchte einen Moment, um sich an das helle Licht und die leicht verzerrte Akustik zu gewöhnen, die in so krassem Gegensatz zum Halbdunkel und der Stille des Flurs standen. Die Wirkung der Medikamente würde in den Abendstunden abklingen, doch noch spürte Jay die Nebenwirkungen. Es kam ihm vor, als würde er alles ein wenig überdeutlich wahrnehmen. Gleichzeitig war er immer noch abgeschirmt von der vielen Elektrizität, die sich gerade um ihn herum befand. So zumindest fühlte es sich für ihn an.

Jay atmete tief durch. Er war perfekt in Form und mehr als bereit. Dieses Turnier wollte er als Sieger verlassen und dafür würde er alles geben, was er hatte. Während er über die bevorstehenden Kämpfe nachdachte, kam ihm das letzte Gespräch mit Hiroo in den Sinn. Es war wirklich mies, dass sie ihr die Teilnahme verweigert hatten.

Gegen sie würde ich lieber kämpfen als gegen Alexis, dachte er, hielt inne und musste unwillkürlich lächeln. Aber für Hiroo hatte er sich schon etwas überlegt. Sie war wohl gerade irgendwo auf dem Campus und musste ihren Arrest absitzen. Ob sie wohl ein paar interessante Informationen abschöpfen konnte? Eigentlich, dachte Jay, konnte er ja zumindest auch schauen, was er hier so mitbekommen konnte. Er vermutete nicht wirklich, bahnbrechende Erkenntnisse zu gewinnen. Doch wenigstens ein bisschen Einsatz konnte er schon zeigen. Wer weiß, was dabei herauskam.

Er schaute sich in der Halle um, suchte nach bekannten Gesichtern oder irgendetwas von Belang. Die Aussicht war ziemlich ernüchternd: Die hohen Tiere von der Eröffnungsfeier sah er nirgendwo auf den Rängen oder in den Logen und auch unten bei den Kampffeldern tummelten sich nur Schiedsrichter, Trainer und Teilnehmer. Jay konnte im Prinzip nur niederrangige Leute entdecken, was ihn ein bisschen verwunderte. Selbst wenn man nicht allzu viel Präsenz der Oberen erwartete – es gab den ein oder anderen, den man unter den Zuschauern vermutet hätte. Jay beschloss gerade, sich diesen Fakt zu merken, um beim nächsten Treffen mit Hiroo auch etwas beitragen zu können, als sein umherschweifender Blick an jemandem hängen blieb.

Obwohl er ihn bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, wusste Jay instinktiv, dass es Satoshi sein musste – Hiroos Trainer. Die zum Hochzopf gebundenen schwarzen Haare wiesen an den Seiten weiße Strähnen auf. Auch der kurze Ziegenbart und der Schnurrbart waren von einigen helleren Härchen durchzogen. Seine leicht gelbliche, sonnengebräunte Haut hob sich von dem Anthrazit seines Anzugs ab. Man konnte ihn nicht richtig einordnen. Einerseits wirkten die unterschiedlichen Stoffe stilvoll, doch schien die Kleidung nicht nur elegant, sondern gleichzeitig bequem und praktisch zu sein. Jay war sich nicht sicher, was es war – etwas ließ ihn innehalten, bannte ihn geradezu. War es das Aussehen? War es schlichtweg seine eigene Neugier oder war es die Ausstrahlung dieses Mannes? Jordan hatte mal erzählt, dass Satoshi einen deutlich höheren Rang innehatte. Man sah es ihm deutlich an. In seiner Haltung, seinen Bewegungen, seinen Gesten und seiner Erscheinung war er die Verkörperung eines Meisters.

In diesem Moment drehte Satoshi sich zu Jay um und sah ihn direkt an. Seine harten Wangenknochen und die festen Züge ließen ihn bei flüchtiger Betrachtung streng wirken. Tatsächlich lag aber wesentlich mehr in seinem Blick: Bestimmtheit, Aufmerksamkeit und Unnachgiebigkeit. Er schien Jay zu erforschen, fast schon herauszufordern. Der junge Esper hielt ihm stand. Er konnte sich jetzt nicht einfach abwenden.